Abschiedskuss
sowie ein immer verwirrteres kleines Mädchen zurückließ.
Sie wollte uns auf die Probe stellen, denke ich jetzt. Sie wollte unsere Liebe auf die Probe stellen.
Ich war eher selten das Objekt ihrer schlimmsten verbalen Attacken, ihrer Verachtung oder des wochenlangen Schweigens, die auf ein Gefühl, ungerecht behandelt oder missverstanden worden zu sein, folgten. Aber auch das kam vor. Meist befanden sich Papa oder Großvater im Fadenkreuz ihrer Unberechenbarkeit, und oft, ganz oft, saß ich am Küchentisch und versuchte, meine Hausaufgaben zu erledigen, während sie vor der Dunstabzugshaube über dem Herd stand, eine Zigarette nach der anderen rauchte und halblaut in Richtung der Fliesen fluchte, was für »Schweine« alle seien.
Sie sprach fast nie von tiefgreifenden Dingen, meist waren es triviale Alltäglichkeiten, und sie konnte sich in lange, gehässige Monologe verstricken, was wir zu Mittag essen sollten, ob Grützwurst oder besser Fleischwurst, aber Wurzelgemüsebrei würde sie verdammt noch mal nicht dazu machen, auf gar keinen Fall, dazu hätte sie wirklich keine Zeit und auch keine Lust. Oder sie unterzog Papa einem stundenlangen, hartnäckigen Verhör, wann er eigentlich seinen Arbeitsplatz verlassen habe, da er fünfundzwanzig Minuten später als sonst nach Hause gekommen war und sich weigerte zu sagen, ob er unterwegs irgendwo aufgehalten wurde oder nicht.
Wie kannst du nur?, dachte ich immer. Wie kannst du nur? Um dann, mit der Logik eines Kindes, die Antwort zu finden: Sie kann nicht immer so gewesen sein. Warum ist sie so geworden? Der Grund schien mit der Zeit auf der Hand zu liegen. Irgendwie war alles meine Schuld.
Es kam vor, dass sie über sich selbst sprach, und dann klagte sie, kritisierte und verunglimpfte sich selbst.
»Nein, so etwas verstehe ich nicht, ich bin zu dumm«, wenn ich sie mal um Hilfe bei den Hausaufgaben bat. Oft ging es bei ihrer unermüdlichen Selbstkritik um ihr Äußeres, obwohl ich glaube, dass sie insgeheim wusste, dass sie recht gut aussah, und auch stolz darauf war. Sie schrieb wie ein Teenager und dachte wie ein Teenager, ein kleines Mädchen, das sich insgeheim wünscht, dass man ihm widerspricht. »Nein, sag doch nicht so etwas, du kannst das alles, du bist hübsch.«
Aber mit den Kinderbüchern bei mir im Bett unter der Decke war es anders. Ich glaube, sie vergaß sich selbst. Ich bin nicht sicher, ob sie sich bei der Auswahl unserer gemeinsamen Lektüre an bestimmte Regeln hielt, aber ich erinnere mich, dass sie selten, vielleicht auch nie stockte, obwohl einige Bücher seltsame Personennamen enthielten und einen weitaus größeren Wortschatz, als sie jemals verwendete. Ihr Lieblingsbuch war zweifellos »Mio, mein Mio«.
Ich hatte es bereits in der Schule gelesen und es so lala gefunden. Es war nicht so lustig wie Pippi und Michel, sondern eher düster und melancholisch, etwas, worauf ich beim Lesen gut verzichten konnte. Vielleicht ja, weil mein Leben auch so schon düster genug war.
Aber wie immer wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Mama froh oder zumindest gleichmütig sein möge, also sagte ich nichts. Wie sehr ihr dieses Buch doch gefiel! Ihre auch sonst beeindruckende Gabe, sich einzuleben und ihren Tonfall zu variieren, kam hier besonders zur Geltung. Und einmal konnte sie gar nicht mehr aufhören vorzulesen. Sie wollte wissen, wie es weiterging, und blieb bei mir liegen, las mir halb flüsternd bis tief in die Nacht vor. So leise wie möglich, weil sich Papa schon längst schlafen gelegt hatte. Dabei stieß sie auf den Satz, den wir uns dann eine ganze Weile lang immer wieder vorsagten:
»Der Feind ist mitten unter uns.«
Diese Worte entsprachen ihrer Vorliebe für das Dramatische, und sie begann damit, den Satz bei jeder Gelegenheit anzubringen. Es kam vor, dass sie in der Küche stand und mich bat, leise zu sein, wenn eine gesprächige Nachbarin, die bei den Zeugen Jehovas war, mit dem Wachturm in der Hand klingelte. Dann zog Mama mich zu sich hinter die Gardine, kicherte und sagte ganz leise:
»Der Feind ist mitten unter uns.«
Ich stolpere auf die Damentoilette der Buchhandlung, die glücklicherweise frei ist. Am Waschbecken schöpfe ich kaltes Wasser mit den Händen. Es ist mir egal, dass die Ärmel meines Pullovers nass werden. Als mir das Wasser ins Gesicht spritzt, löst sich der Bann, und mein Körper wird von einem kurzen Weinkrampf erfasst. Ich klopfe mir kräftig auf die Wangen, und Wasser spritzt auf den Spiegel. Dann
Weitere Kostenlose Bücher