Abschiedskuss
bringen kann, stehenzubleiben und auf das Fenster zu schauen, hinter dem wir sitzen. Wenn ich sie nur unverwandt und energisch genug anschaue. Ich halte das für enorm wichtig. Aber der Mann draußen trabt die St. James Street entlang, als hätte er es eilig. Er ist drauf und dran zu verschwinden.
Die letzte Chance. Ich muss. Ich stehe auf und trommele mit beiden Fäusten an die Fensterscheibe. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich King halb erhebt und der Cafébesitzer missbilligend die Stirn runzelt. Der Mann auf der Straße kann es unmöglich gehört haben. Draußen stürmt und regnet es jetzt ziemlich stark, und Busse rasen mit hoher Geschwindigkeit vorbei.
Aber da geschieht es. Ich sehe, wie er seine Schritte verlangsamt. Es funktioniert. Er dreht wie benommen den Kopf zur Seite. Erst entdeckt er mich. Dann sieht er King. Der Mann, von dem ich nicht weiß, wer er ist, dreht sich um, überquert die Straße und kommt auf die Tür des Cafés zu, in dem wir sitzen.
Als die Spannung nachlässt, beginnen meine Hände so stark zu zittern, dass meine Kaffeetasse auf der Untertasse klappert.
King und ich verziehen beide das Gesicht, als eine eisige Windbö die Tür aufdrückt, ein paar große schneeige Regentropfen hereinwehen und der zerlumpte Mann von der Straße das Lokal betritt. Ohne zu zögern, steuert er direkt auf unseren Tisch zu.
»King!«, ruft der Obdachlose heiser und winkt fröhlich. »King, wusst ich’s doch, dass Sie das sind. Ja, meine Augen funktionieren wirklich noch bestens.«
Er bemerkt Inspektor Kings Ratlosigkeit und reißt sich die verfilzte Schirmmütze vom Kopf. Darunter kommt ein schlecht rasierter, mit Beulen übersäter Schädel zum Vorschein.
»Ah!«, sagt Steve King und stellt dem Mann einen Stuhl hin. »Pretty Pete. Sie haben sich ja in dieser Gegend schon lange nicht mehr blicken lassen. Wann hat man Sie denn rausgelassen?«
Pretty Pete setzt zu einer Antwort an, muss aber plötzlich fürchterlich husten, vermutlich aufgrund der unzähligen aufgeklaubten Zigarettenstummel, die er im Laufe der Jahre geraucht hat. Aber er scheint nüchtern zu sein, und seine wettergegerbten Wangen wirken nicht ausgemergelt. Er trägt recht neue Wanderstiefel mit ordentlichen violetten Schnürsenkeln. Ich reiche dem hustenden Mann mein Wasserglas. Er trinkt gierig und umklammert das Glas so fest, dass ich Angst bekomme, es könnte in seiner Hand zerbersten.
»Möchten Sie was essen?«, fragt King und sucht in seiner Manteltasche instinktiv nach ein paar Pfundmünzen.
»Nein, verdammt, sie mästen einen schon genug in dem Obdachlosenheim. Schauen Sie mich nur an! Aber wollen die Herrschaften nicht vielleicht jeder so eine hier kaufen?«, sagt Pete und räuspert sich ein letztes Mal.
Erst jetzt bemerken wir, dass er an einem Nylonband einen Ausweis um den Hals trägt. In einer Tasche, die über seiner Schulter hängt, steckt in einer Plastikhülle ein Stapel Obdachlosenzeitungen.
»Klar …«, meint King zögernd. »Unglaublich, wie ordentlich Sie geworden sind. Aber ich weiß nicht, ob Sie in einem Café so ohne Weiteres Ihre Zeitungen anbieten dürfen.«
»Nein. Darf ich nicht«, erwidert Pete und nimmt mit einem Seufzer Platz. »Ich wollte aber sowieso mit Ihnen sprechen. Ein Glück, dass ich Sie entdeckt habe!«
Pretty Pete hat einen zusammengefalteten Zettel in der Tasche. Er faltet ihn umständlich auseinander und streicht ihn mit seiner großen Hand auf dem Tisch glatt. Es ist die Bitte der Polizei, man möge sich melden, falls man Hinweise zur Ermordung von Birgitta Grå habe. Mamas Name in dunkelroten Buchstaben. Es schaudert mich, und ich wünsche mir, ich hätte meinen Mantel nicht aufgehängt.
»Ich habe mich an dem Abend am Strand herumgetrieben«, sagt Pete und senkt die Stimme. »In der Nähe vom Pier. Ich habe etwas Fürchterliches gesehen. Dessen bin ich mir mittlerweile fast sicher. Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Sie wissen ja, wie das ist. Ich hab den Zettel gestern in der Unterkunft entdeckt, als ich dort war, um zu duschen. Ein Glück, dass ich Sie eben durchs Fenster gesehen habe. Können Sie meine Aussage hier aufnehmen? Ich will nicht gerne auf die Wache. Ich fühl mich da nicht so wohl.«
»Ich versteh schon«, sagt der Inspektor, jetzt ebenfalls mit leiserer Stimme. »Aber ich kann hier im Café keine offizielle Aussage aufnehmen, das wissen Sie, Pete. Und wie Sie sehen, bin ich gerade mitten in einer Besprechung … Aber Sie können
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