Abschiedskuss
Ich hörte das kratzende Geräusch des Stifts, mit dem er mitschrieb.
Jetzt bin ich auf dem Weg zu unserem Treffen. Ich kehre nach Brighton zurück.
Vom Oxforder Hauptbahnhof hat man eine perfekte Sicht auf das hektische Gedränge der Pendler am Gleis eins. Die Luft ist erfüllt von dem lärmenden Geräusch der Züge und dem Duft nach frisch gemahlenem Kaffee. Alles ist in Bewegung, und das Echo kurzer Unterhaltungen und Gesprächsfetzen dringt von überall um mich herum an mein Ohr. Passendes Kleingeld für das Mädchen im Kiosk. Rasche Schritte, eine aufgerollte Tageszeitung unter dem einen Arm, einen Schirm unter dem anderen. Manchmal pfeift der Express nach Schottland auf seinem Weg nach Norden, ohne Halt, direkt am Bahnsteig vorbei. Dann entsteht ein tödlicher Sog, und man hat das Gefühl, der Weltuntergang sei nahe, sei nur vier Sekunden entfernt. Aber niemand verzieht eine Miene. Ein Mann mit Aktenkoffer und wehendem Mantel eilt an mir vorbei. In einem Tragesitz vor seiner Brust schläft ein kleines Kind, ein Junge.
Unweit der Fahrkartenschalter steht ein sommersprossiger Teenager und verkauft Blumensträuße von einem Wagen auf zwei Rädern. Lachsfarbene Rosen in dichten Sträußen, rot und weiß gesprenkelte Nelken, Gerbera in unglaublich grellen Farben.
»Haben Sie Maiglöckchen?«, frage ich ihn. Mein Mund sagt das einfach, eine Laune, die mit dem Kopf nichts zu tun hat.
Er lächelt schüchtern und unsicher.
»Nein, nicht um diese Jahreszeit«, sagt er und hebt entschuldigend seine rissigen Hände.
»Und das da?«, sage ich und deute auf einen leeren Eimer schräg hinter ihm. Eine unerklärliche Vorahnung überkommt mich. Er schaut sofort auf den Boden, auf die Stelle, auf die ich gedeutet habe. Und da liegen sie.
Neben dem Eimer liegt ein kleiner Strauß Maiglöckchen. Eben erst gepflückt ohne Gummiband oder Zellophan. Der Junge starrt entgeistert auf den Strauß. Dann sieht er mich misstrauisch an. Ich ziehe die Brauen hoch und nicke. Er schaut erneut auf den Strauß. Schließlich wirft er mir ein schiefes, kreideweißes Lächeln zu, vollführt eine sonderbare Geste, die fast so aussieht, als würde er sich bekreuzigen, beugt sich vor und reicht ihn mir wortlos.
Ich habe keinen Becher mit Wasser und halte die Blumen während der gesamten Zugfahrt an die Küste in der Hand. Die kleinen weißen Glocken zittern bei jeder Erschütterung, stundenlang. Ein unsichtbares Band rollt sich in mir auf, wird immer kürzer, während ich mich allmählich Brighton nähere.
Als ich endlich auf dem wintergrauen Pier stehe und in den Meereswind blinzele, sehen die Maiglöckchen immer noch aus wie frisch gepflückt. Ich lege den Strauß auf die rohen Planken, auf denen die Konturen von Mamas Blut weggeschrubbt und für alle unsichtbar sind, außer für mich. Für mich haben sich diese Spuren tief in das Holz gegraben, sind immer noch da. Ich binde meinen Schal fester um den Hals und mache mich auf den Weg zur Polizeiwache.
Inspektor King zieht sich den Krawattenknoten zurecht, während er das Angebot des Kaffeeautomaten im Pausenzimmer ein drittes Mal mit unvermindertem Widerwillen überfliegt.
»Es soll heute noch Schneeregen geben, aber das lässt sich nicht ändern. Ich schlage vor, wir gehen trotzdem raus. Ich brauche einen richtigen Kaffee«, sagt er.
Ein Kollege mit zwei Plastikbechern in den Händen zieht seinen Bierbauch ein, um an uns vorbei zu kommen, und sieht Steve säuerlich an. Inspektor King merkt das nicht. Er hilft mir in meinen Mantel.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, sagt er, als wir langsam um den Parkplatz herumgehen.
»Bereits bei unserer ersten Begegnung hatte ich das Gefühl, dass Sie mich an jemanden erinnern, und jetzt weiß ich auch, an wen.«
Ich zucke mit den Achseln und lächele schüchtern.
»Nun«, fährt er fort, »jetzt wird es sehr persönlich, Sie müssen das entschuldigen. Sie ähneln einer fünfundsechzigjährigen Dame mit weißen Zöpfen.«
Ich lache laut und überrascht.
»Sie war Fruchtbarkeits-Expertin. Lebte im Künstlerviertel von Brighton, hatte einen kleinen Laden voller Kristalle, Traumfänger und schlechter, abstrakter Kunst«, fährt er fort.
»Meine Frau, Doreen, hat mich mal dahin geschleift. Wir hatten es sechs Jahre lang versucht. Immer wieder, ohne Erfolg. Wir haben gelitten und hatten nur einen sehnlichen Wunsch.«
»Einen sehnlichen Wunsch?«
»Ja, nach Kindern.«
Er sieht mich ruhig von der Seite an, beobachtet meine Reaktion und fährt dann
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