Abschiedskuss
Schuh. Wie kindisch. Aber es macht mir Spaß. Ich vergesse, dass die Jacke kratzt. Dann zeichne ich noch einen Schuh, dieses Mal einen spitzen Stulpenstiefel. Den Stiefel einer Hexe. Und noch einen, einen gepunkteten Ballettschuh. Den zeichne ich von oben, so dass man die abgeflachte Spitze sehen kann. Anschließend ist eine sommerliche Espadrille mit Keilabsatz an der Reihe.
Als ich eine ganze Seite mit verschiedenen Schuhen gefüllt habe, blättere ich um und beginne mit Süßspeisen. Puddings, Torten, zierliche Hörnchen und Muffins mit Glasur. Es ist, als würde ich mit einer Puppenstube spielen. Oder mit Anziehpuppen. Dann greife ich zu den billigen, dünnen Filzstiften. Nikita und ich haben die Stifte im »One Pound Shop« gekauft, in dem alles genau ein Pfund kostet. Eigentlich nur zum Spaß. Um Zettel mit lustigen Nachrichten und humoristischen Zeichnungen füreinander anzufertigen.
Eilig ziehe ich die Stifte aus dem weichen, durchsichtigen Etui und schiebe sie eine Weile hin und her, bis ich einige Farben habe, die gut zusammenpassen. Weihnachtsmannrot, Kaugummirosa, Klementinenorange und Zitronengelb. Ich koloriere meine Schuhe und mein Gebäck mit grellen Süßigkeitenfarben und schiebe wie ein kleines Kind die Zungenspitze in den Mundwinkel.
Anschließend will ich nur weinen. Was tue ich da? Wegen solchem Unsinn bin ich wirklich nicht hier. Das sind Teenagerkritzeleien, wie man sie beim Telefonieren auf einen Zettel malt. Das kann ich wirklich niemandem zeigen. Ich will gerade die beiden Seiten aus der Spiralbindung meines Skizzenblocks reißen und in den Papierkorb werfen, als die Deckenlampe mit einem lauten Knall zerspringt.
Im selben Augenblick klopft es barsch an die Tür. Vor Schreck setzt mein Herz einen Schlag lang aus. Dann beginnt es so schnell zu rasen, dass es schmerzt und ich nach Luft schnappen muss. Mein Atem ist kurz und flach. Lautlos stehe ich auf und öffne die Tür. Der Korridor ist leer.
Ich stecke den Kopf nach draußen und schaue finster die Reihe der nummerierten Türen entlang. Nichts. Vollkommene Stille. Nur das leise Sausen des Oktoberwinds, der sich unter dem Dach verfängt und bei Raymonds Astern für Unordnung sorgt. Ein paar Regentropfen schlagen im Stakkato gegen die Fensterscheibe.
Mill Creek Manor ist kein Sommercamp. Hier verknotet man einander nicht die Laken, hier wird nicht Flaschendrehen gespielt oder Stille Post, hier macht man nachts keinen Lärm, um andere Leute zu erschrecken. Einige der Doktoranden sind Anfang dreißig, einer hat sogar bereits Familie. Der Einzige, bei dem ich mir vorstellen könnte, dass er andern gerne Streiche spielt, ist Ashley, aber der ist gerade ins Kino gegangen.
Ich schließe die schwere Tür mit einem lauten Knall, um meine Nervosität zu übertönen. Der Lärm ist fürchterlich, und ich schäme mich. Wenn meine Nachbarn jetzt an einem wichtigen Projekt arbeiten oder für eine Prüfung lernen? Reuevoll drehe ich mich zu unserem halbdunklen Zimmer um und kneife die Augen zusammen. Etwas hat sich verändert.
Die Luft ist irgendwie schwer. Es riecht betäubend stark nach Duschseife, warum habe ich das eben nicht bemerkt? Ich laufe auf Socken ein paar Schritte in Richtung Badezimmer, um nachzusehen, ob Nikita ihr Shampoo ausgegossen hat oder etwas dergleichen. Da bemerke ich, dass die kleine Lampe im Fenster brennt. Ein Schauder überkommt mich. Eben war sie noch nicht an. Dessen bin ich mir nahezu sicher.
Bei dem Geruch welker Maiglöckchen wird mir schwindlig. Das Badezimmer ist vollkommen von Dampf erfüllt, und das Kondenswasser läuft die Fliesen hinunter.
Hilf mir, Mama. Bitte, Mama. Komm und hilf mir. Sag mir, was ich tun soll.
Der Spiegel über dem Waschbecken ist beschlagen. Ich strecke eine Hand aus, um die Feuchtigkeit wegzuwischen. Das Spiegelglas fühlt sich unter meiner Handfläche seifig glatt an. In diesem Augenblick sehe ich es: abstoßend und grauenhaft.
Das sind gar nicht meine Finger, die ich dort ausstrecke. Die Hand vor dem Spiegel ist ein Bündel magerer Klauen. Dunkelgrüne Adern schlängeln sich unter der verschrumpelten Haut auf dem Handrücken. Blaurote Flecken leuchten zwischen den Knöcheln. Die Nägel haben Trauerränder, und schmutzig rosafarbener Lack blättert ab. Sie sind etwas zu lang und zu einem spitzen Oval gefeilt, eine Form, die mir sehr vertraut ist. Zwei Nägel sind abgebrochen.
Ich beginne zu würgen. Das hier kann gar nicht wahr sein.
Als ich in den Spiegelstreifen blicke, den die
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