Abschiedskuss
Totenhand freigewischt hat, sind dort nicht meine Augen. Ein wässriger, hellblauer Blick, ohne Glanz, ohne Leben. Ich blinzele ein paarmal. Mein Spiegelbild tut das nicht.
Durch den nassen Wasserdampf sehe ich einen gekrümmten Zeigefinger, der sich streckt. Ich recke den Arm, will diese Gespensterhand möglichst weit von mir weg halten.
Der klauenförmige Finger beginnt etwas auf den beschlagenen Spiegel zu schreiben. Unendlich langsam bilden sich Linien. Manchmal zuckt die Hand, diese klägliche alte Hand, die nicht meine ist, obwohl sie am äußersten Ende meines Armes sitzt. Kleine, ruckartige Bewegungen, als sei sie starr und kalt. Als hätte sie sich lange nicht bewegt. Schwere Wassertropfen sammeln sich am unteren Ende jedes Strichs und sickern in vertikalen Streifen Richtung Waschbecken.
45 schreibt die Hand. Unsere Zimmernummer.
Dann streckt sich der verkrümmte Zeigefinger wieder. Ich zittere und bebe am ganzen Körper, aber der Finger mit dem ovalen Nagel ist ruhig, als er sich erneut der Ziffer fünf nähert.
Er ändert die Zahl, langsam und bedächtig, aber das weiß ich bereits, ehe er fertig ist. Die Fünf wird zu einer Sechs, so dass die Nummer im Spiegel … die des Zimmers im Nordflügel ist, das es nicht gibt. Der Ort des Massakers von Mill Creek Manor. Das Zimmer des toten Mädchens in der Badewanne. Emma Isherwoods Zimmer.
Nummer 46 .
21. Kapitel
Irgendetwas stimmt mit meinen Augen nicht. Ich habe den Eindruck, durch eine halb durchsichtige, milchweiße Membran zu sehen oder durch Transparentpapier, genau solches Papier, wie wir es im Unterricht benutzen. Auch Architekten verwenden es manchmal für ihre Entwürfe. Die Kanten werden hell, wenn man es zerreißt.
Ein scharrendes Geräusch dringt durch meinen Kopf, sobald ich die Augenlider bewege und meine Wimpern an dieses Sichthindernis stoßen.
Irgendetwas ist mit meiner Wahrnehmung geschehen. Auf einer rationalen und nüchternen Ebene sehe ich das vollkommen ein. Gleichzeitig befinde ich mich in einem Chaos. Ich taste unbeholfen. Die Hände sind wie hilflose Pfoten, geschwächt. Finden nicht hinaus. Die Umgebung wirkt schief, verschoben und unzuverlässig. Dieses Papier vor den Augen. Das ist alles, woran ich mich halten kann.
Nach einigen Minuten, vielleicht auch länger, wird mir klar, dass ich unter Nikitas und meinem kleinen Schreibtisch auf dem Boden liege. Jemand von uns hat das grauweiße Papier fallen lassen, und es ist dort liegengeblieben. Ich habe mit der Wange darauf gelegen, und nun haftet es an meiner Haut. Ich bin in unserem Zimmer. Ich bin allein. Irgendwo über mir rauscht es in einer Wasserleitung. Mein Blick kriecht wie eine müde Fliege an einem weißlackierten Rohr entlang, das von der Decke zum Boden verläuft. Immerzu dieses Wasser. Spuren, die sich im Wasser verbergen, oder wie war das gleich? Wasser, das Spuren verbirgt? Nein. Das alle Spuren fortspült. Was versuchst du mir zu sagen, Mama? Was geschah mit dir? Und was weißt du? Was kannst du in diesem Zimmer und im Wasser sehen? Weißt du, wie es mir geht? Verstehst du, dass ich kaum noch Kraft habe? Kümmert dich das?
Es dauert noch einige Minuten, bis ich es schaffe, mich aufzusetzen.
»Der Kampf ums Publikum ist ein Kampf auf Leben und Tod«, sagt Professor Chesterfield und legt sein Gesicht in joviale Falten, um seine Worte weniger unbehaglich klingen zu lassen.
»So ist es nun einmal. Wir müssen ein Auskommen finden und in einer Gesellschaft überleben, in der bereits ein großes Potential an Begabung vorhanden ist. Aber«, fährt er fort, »in unserer Zunft ist es die Gabe, sich über dieses Wissen zu stellen, die die Spreu vom Weizen trennt. Wir spüren, dass das so ist – aber wir lassen uns deswegen nicht kastrieren.«
Er verschränkt seine Arme über dem Jackett, so dass es fast aussieht, als würde er sich selbst umarmen. Sein Blick ist auf einen Punkt hinter seinen Schülern gerichtet, auf einen Punkt jenseits des Zeichensaals, einen Punkt auf dem Quad, dessen grünes Viereck gerade noch durch die regennasse Fensterscheibe zu sehen ist.
»Manchmal werden nicht diejenigen am deutlichsten vernommen, die am lautesten schreien, sondern diejenigen, die flüstern«, sagt er. »Ich versuche, Folgendes zu vermitteln: Finde deine Eigenart, und das Ziel ist schon halb erreicht.«
Ich habe mich auf meine Hände gesetzt und versuche, sie aufzuwärmen. Ich sehe, dass Nikita es genauso gemacht hat. Es riecht nach feuchten Kleidern und Heizkörpern im
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