Abschiedskuss
Saal, aber die Fenster sind zugig, und die Wärme verschwindet, bevor sie uns erreicht.
Yasus regennasse Frisur ist in breiten schwarzen Strähnen um ihr Gesicht herum getrocknet, während Jacks Haar aussieht wie ein ziemlich großes Vogelnest vom Vorjahr. Ich glaube, wir sind alle etwas mitgenommen, weil Chesterfields Worte so authentisch klingen. Bislang haben einige von uns den Ernst des Kurses vermutlich noch gar nicht richtig erfasst und nicht in Betracht gezogen, dass dieser Herbst Möglichkeiten bieten kann, wie sie einem nur selten im Leben begegnen.
»Sie haben alle ein hohes Niveau erreicht und sind begabt. Alle geben ihr Bestes. Ich will nicht zu irgendeiner Wettkampfmentalität oder zu Missgunst aufrufen, aber es schadet auch nicht, sich bewusst zu werden, was einen erwartet«, fährt Chesterfield fort. »Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, seine Eigenart zu finden und diese weiterzuentwickeln, und nicht etwa darin, etwas zu kopieren, das andere bereits geschaffen haben. Es geht nicht darum, ein Hansdampf in allen Gassen zu werden, oder wie wir so schön sagen, ein Jack of all trades but a master of none , also jemand, der zwar alles kann, aber eben nichts richtig.«
Ich schiele auf Jack, der mit einem Stift in der Hand über seinen Zeichenblock gebeugt dasitzt. Die Spitze schwebt wenige Millimeter über dem Papier, berührt es aber nicht.
»Mit Jack of all trades meine ich«, sagt Chesterfield und nickt in die Richtung von Yasu und mir, »dass Sie alle ganz gut mit Aquarellfarbe, Öl und Bleistift umgehen können und auch eine nette Collage hinbekommen. Das können alle auf Ihrem Niveau. Aber jetzt gilt es für jeden, sich von den anderen zu unterscheiden, seine eigenen Ausdrucksformen, die richtige Methode zu finden. Der Anfängerfehler, den ich bei Probearbeiten und in Mappen am häufigsten entdecke, besteht darin zu sagen: Schaut her, ich kann alles Mögliche, Kinderbuchillustrationen, Modezeichnungen und auch ein nettes Aquarell. Tun Sie das nicht. Spezialisieren Sie sich. Eine ganze Mappe mit mangainspirierten Illustrationen in Tusche und mit einer begrenzten Farbpalette beispielsweise, die förmlich Yasu ruft. Das wollen Galeristen oder Bildredakteure sehen. Etwas Neues, Einzigartiges, eine Mappe mit dem gewissen Etwas.«
Einige meiner Mitstudenten schreiben eifrig mit, andere nicken nachdenklich.
»Warum diese Rede?«, sagt der Professor. »Nun, weil es bereits jetzt darauf ankommt. Die Winterausstellung der Abschlussklasse steht bevor, und wie immer besteht für einige wenige glückliche Studenten anderer Semester die Möglichkeit, im Foyer der Ausstellungshalle ein eigenes Werk zu zeigen. Für Sie beispielsweise. Ich sitze in der Jury, und es würde mich sehr freuen, wenn einige von Ihnen eine Arbeit einreichen würden.«
Er sieht sich erwartungsvoll im Saal um. Nikita sitzt immer noch auf ihren Händen, und ich bemerke, dass sie lächelt und eifrig nickt, als der Professor sie anschaut.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich werde mich nach besten Kräften für Sie einsetzen. Natürlich nur, wenn Sie außerordentliche Werke einreichen. Unsere Ausstellungen ziehen schließlich die besten Londoner Galeristen, Bildredakteure und Talentscouts an, wie Sie sicher wissen. Der Kampf, gesehen zu werden, nimmt also bereits seinen erbarmungslosen Lauf.«
Ashley fährt sich mit einem Finger wie mit einem Messer die Kehle entlang und sieht mich mit großen Augen an. Diese drastische Geste durchbricht meinen Eispanzer und wärmt mich irgendwie innerlich. Ich werde ganz froh. Dass man doch noch so scherzen kann. Obwohl er über mich und das, was meiner Mutter zugestoßen ist, Bescheid weiß, behandelt er mich ganz normal. Ashley findet, dass ich normal bin.
»Weiterhin«, sagt Chesterfield, »brauchen wir Freiwillige, die beim Aufhängen der Bilder helfen und am Abend der Vernissage die Gäste empfangen, Wein servieren und dergleichen. Übrigens eine sehr gute Gelegenheit, wertvolle Kontakte zu knüpfen.«
Jack und ich heben sofort unabhängig voneinander den Arm, um uns freiwillig zu melden.
Als ich den Saal verlasse, sehe ich einen flüchtigen Schatten zwischen ein paar hohen Ausstellungsvitrinen auf dem Korridor. Ich kann die Züge der Gestalt nicht erkennen, aber der flüchtige Anblick heller Kleider und einer Kurzhaarfrisur sagt mir, dass Arabella Chesterfield dort wartet. Sie macht keine Anstalten, irgendeinen von uns Studenten zu begrüßen, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob
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