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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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sie liegen. Den Schraubenzieher stecke ich wieder in die Tasche. Dann fahre ich mit den Fingern über die Spuren der Metallfünf in der dicken Farbschicht. Fast sofort spüre ich, was ich bereits geahnt habe. Die Konturen einer anderen Zahl. Andere Schraubenlöcher, die zugespachtelt und übermalt worden sind. Wie eine Blinde folge ich dem alten Abdruck mit den Fingerspitzen. Kein Zweifel: Es ist eine Sechs.
    »Oh nein. Zimmer 46 gibt es nicht«, murmele ich leise mit einem verbissenen, fast irren Unterton in der Stimme. »Es gibt kein Zimmer 46 im Nordflügel. Nein, nein. Und in welchem Zimmer haben Nikita und ich dann die ganze Zeit gewohnt?«

28. Kapitel
    Raymonds Frühschicht hat soeben begonnen, und er will gerade in einen Toast beißen, als eine Furie mit irrem Blick, wirrem Haar und flatterndem Morgenmantel sich auf ihn stürzt. Die Furie bin ich.
    »Vielleicht hätten Sie endlich mal die Güte, mir die Sache mit den Zimmernummern zu erklären!«, kreische ich. »Was ist das für ein verdammtes Totenzimmer, in das Sie Nikita und mich gepfercht haben?«
    Der tapsig gutmütige Mann legt seinen Toast beiseite und hebt das vom Leben gezeichnete Gesicht.
    »Setzen Sie sich. Glauben Sie, wir hatten eine andere Wahl?«, fragt er gedämpft.
    »Nach dieser fürchterlichen Tragödie, der ganzen polizeilichen Ermittlung und allem, was in den Zeitungen gestanden hat? Wir haben ein ganzes Jahr lang renoviert und verschönert. Die Renovierung war lange überfällig. Es regnete durchs Dach, die Wände waren nicht isoliert und die Wasserleitungen über hundert Jahre alt. Das hat viel Geld gekostet. Aber dann … ja, es hat nichts genützt. Wir hatten große Probleme. All die Gerüchte. Es war schrecklich. Widerlich. Viele Studenten, die wir für Mill Creek Manor gewinnen wollten, hatten Angst vor Gespenstern. Ihre Eltern glaubten, das hier sei eine Art Sodom und Gomorrha. Man konnte es ihnen schlecht verübeln. Aber das Schlimmste waren all die Sensationshungrigen, diese verdammten Hyänen … Es gab sogar einen jungen Journalisten, der sich nur an der Universität einschrieb und hier einzog, um eine Insidergeschichte über Zimmer 46 schreiben zu können. Er streifte umher, störte die anderen Studenten und steckte seine Nase überall rein … Wir haben dem natürlich ein Ende bereitet. Aber noch heute kommen Touristen, die Fotos machen wollen … Schriftsteller … und Gespensterjäger. Wir konnten dieses Zimmer nicht behalten. Also haben wir im Nordflügel ein paar Zwischenwände herausgerissen und dafür gesorgt, dass alle Zimmer ein eigenes Bad bekamen. Zimmer 45 und 46 wurden ein Doppelzimmer. Wir haben Zimmer 46 ganz einfach beseitigt. Seither ist Ruhe.«
    »Ruhe?«, sage ich mit frostiger Stimme. »Das Zimmer ist doch noch da. Ruhig war es wirklich nicht, das kann ich Ihnen versichern.«
    »Was soll ich sagen? Es tut mir leid, wenn Sie sich dort nicht gut untergebracht fühlen. Wir versuchen wirklich, uns um Sie zu kümmern, so gut es geht …« Raymond unterbricht sich. Er schaut verzweifelt auf seine großen Hände, die tatenlos im Schoß liegen.
    »Renovierung?«, sage ich und spüre, dass mir eine große Hand das Herz abdrückt. »Sie haben gesagt, alle Zimmer im Nordflügel hätten ein eigenes Bad bekommen. Und wie war es vorher?«
    Raymond schaut auf und kratzt sich an der Nase.
    »In jedem Stockwerk gab es gemeinsame Waschräume«, sagt er. »Einer für Damen und einer für Herren.«
    »Ach so. Toiletten, Waschbecken und Duschen, oder?«
    »Ja, all das.«
    Eine seltsam bittere Ahnung steigt in mir auf, beginnt wie ein giftiger Keim in mir zu wachsen.
    »Wohnten noch andere Studentinnen im selben Stockwerk?«, frage ich.
    Raymond zählt an den Fingern ab.
    »Harriet … Joanna und Mary … ja, und dann natürlich noch Emma. Ich werde sie nie vergessen. Wissen Sie, bösartige Zungen behaupten, dass sie beim Examen gemeinsam geschummelt hätten. Dass es herausgekommen sei und dass sie … etwas genommen hätten … um ihren Eltern den Skandal zu ersparen. Aber ich kannte diese Mädchen. So etwas Dummes hätten sie nie getan.«
    Raymond blinzelt, als sei ihm irgendetwas ins Auge geraten, und ich frage mich, was er mir eigentlich sagen wollte. Dass die Mädchen niemals so dumm gewesen wären zu schummeln oder dass sie sich keinesfalls das Leben genommen hätten.
    »Gab es noch andere Frauen auf diesem Stockwerk?«, frage ich erneut. Das kann nicht alles so simpel und gleichzeitig so grauenhaft gewesen sein. Oder? Oh

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