Abschiedskuss
jedenfalls nicht gestern.«
»Eher selten«, wirft Nikita ein.
»Okay«, sage ich. Kenne ich diese beiden Menschen überhaupt?
»Erzählt schon. Erzählt es mir, da ich so fürchterlich naiv bin.«
Aber Nikita und Ashley haben nicht viel zu erzählen. Nur dass auf der Party verschiedene Amphetamine und Amphetaminderivate in Umlauf gewesen seien. Ich finde, dass sie etwas verlegen wirken, als sie mir erklären, wie die unterschiedlichen Drogen wirken. Ich sitze einfach da und fühle mich wie ein viel zu wohlbehütet aufgewachsenes Kind. Obwohl ich weiß, dass es Drogen gibt. Selbst in der kleinsten Stadt. Dass das normal ist.
»Begreifst du?«, fragt Nikita. »Es ist nicht gesagt, dass es Jacks … Fehler war.«
»Moment mal«, sagt Ash, »natürlich war es sein Fehler. So weggetreten kann man gar nicht sein, dass man jegliche Selbstbeherrschung verliert.«
»Nein«, meint Nikita, »aber es kann auf die Stimmung drücken. Und das hat dann seine Folgen. Er wirkte ehrlich gesagt auf der Party recht traurig, bis ihn Arabella unter ihre Fittiche nahm. Das hast du doch auch gesehen, Ash, oder?«
»Ich habe davon nichts bemerkt«, sage ich düster.
»Nein, natürlich nicht«, meint Nikita, »du hattest alle Hände voll damit zu tun, mit der ersten Garde der Londoner Kunstwelt zu flirten, erinnerst du dich?«
31. Kapitel
Gegen Nachmittag gibt es die Sonne endlich auf, und unser Zimmer wirkt plötzlich eng und beklemmend. Nikita greift zu ihrem großen Skizzenblock. Ich trete hinaus, laufe auf schwachen Beinen durch den Bogengang des Mill Creek Manor. Ich bin allein, und meine Füße sind so müde, als hätte ich sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Plötzlich fällt mir all das Gerenne und Herumstehen vom Vortag wieder ein.
Ich fühle mich unglaublich verletzlich. Zerbrechlich wie eine Genesende. Ist das immer so, wenn man sein Herz öffnet und sich eine Blöße gibt? Mich streift der Gedanke, dass ich eigentlich überhaupt nichts über die Leute in meiner Umgebung weiß.
Ich spüre vage, dass es mich ins Freie zieht, dass ich einfach herumlaufen, mich von meinen Füßen tragen lassen und versuchen muss, alle Gedanken zu verdrängen. Etwa eine halbe Stunde lang funktioniert das auch einigermaßen. Dann lässt sich der harte Trauerklumpen in meinem Bauch nicht mehr bändigen. Er zerstiebt zu kleinen Trauerkörnern, die wie Krankheitserreger durch meinen Körper jagen.
Soll ich mich betrinken? Allein in einer finsteren Bar sitzen, die tragische junge Frau geben und in ein Glas starren? Könnte mir das helfen, die Lähmung in der Brust zu lockern, so dass sie weniger schmerzt? Nein. Ich glaube kaum. Eine Bar würde nur kurzes Vergessen bringen. Außerdem zieht sich mein Magen allein beim Gedanken an Alkohol angeekelt zusammen. Letzte Nacht habe ich ziemlich viel getrunken. Zu viel.
Ist es wahr, was Ash und Nikita angedeutet haben? Dass ich hemmungslos geflirtet habe, dass ich mir diese Situation durch mein Verhalten selbst zuzuschreiben habe? Nein. Auch wenn es für die anderen vielleicht so ausgesehen hat, habe ich selbst es überhaupt nicht so erlebt. Ich habe nur versucht, extrovertiert und sympathisch zu wirken. Ich habe keine Ahnung, wie man flirtet und zu welchem Zweck. Außerdem würde es mir nie einfallen, mit irgendjemand anderem als … mit Jack zu flirten.
Ich bin Maja Grå, ich bin nur noch eine Hülle. Ausgehöhlt und unbrauchbar. Mein Inneres ist nur noch Asche. Ich habe ein Schattendasein geführt, seit ich zwölf Jahre alt war.
Und dann kommen wieder die Tränen. Ich laufe ziellos weiter und weine, über Mama und am allermeisten über mich selbst, denn ich bin mir unbegreiflich.
Es ist inzwischen recht dunkel, und ich halte mich auf einsamen Nebenstraßen. Ich weine leise vor mich hin. Aber es ist ein erstauntes, erlösendes, schönes Weinen. Denn sosehr sie auch schmerzt, die Geschichte mit Jack, sosehr ich bedauere, wie alles gelaufen ist, weiß ich jetzt doch eins: Etwas in mir hat sich verändert, etwas, wofür ich dankbar bin. Ich habe die Gabe zurückerhalten zu lieben.
Dann stehe ich plötzlich vor einem kleinen schiefen Haus in Jericho. Ich klopfe an die Tür, ohne eigentlich zu wissen, wie ich hergekommen bin oder was ich hier zu suchen habe. Im Obergeschoss, in dem zur Straße gelegenen Schlafzimmer, brennt Licht.
Rupert Davenport-Smythe öffnet die Tür. In Yogahosen und offenem Hemd steht er vor mir, als wäre sein Geschlecht der Schwerpunkt seines Körpers, um den alles kreist.
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