Abschiedskuss
Glas an die Lippen heben und halte auf halbem Wege inne. Etwas Schwarzes, Spitzes dreht sich in meiner Magengrube. Ich glaube nicht, dass Jack bemerkt, wie sich die Temperatur zwischen uns innerhalb von nur einer Sekunde verändert. Wie sie umschlägt. Es ist plötzlich sehr kalt geworden.
»Ein bekannter Londoner Galerist will mir nach Weihnachten seine Wohnung in New York zur Verfügung stellen«, fährt er fort. »Mit dem Geld, das mir die verkauften Gemälde eingebracht haben, kann ich dort ein ganzes Jahr wohnen und malen und alle wichtigen …«
Den Rest höre ich nicht mehr. Jack hat Austern bestellt. Er muss mir vier Mal zeigen, wie man sie isst. Meine Hände gehorchen mir nicht. Ich kleckere Wein auf meinen Pullover, merke es aber kaum. Mein Mund lacht und spricht, aber in meinem Inneren herrscht Finsternis. Schwarze, schweigende Finsternis. Ich kann mich für dieses Essen nicht begeistern. Ich will nicht hier sein. Ich will nur schreien und um mich treten.
Ich will nicht wieder verlassen werden.
Wir brechen viel früher auf, als Jack gehofft hatte, und es tut mir weh, seine Enttäuschung zu sehen, seine Ratlosigkeit. Ich bedanke mich und verabschiede mich förmlich, als wären wir zwei Fremde und nicht zwei Menschen, die einander gefunden haben, die verschmolzen, eins geworden sind, und das immer wieder tun wollen, zwei Sonderlinge, die vor Sehnsucht danach glühen, zusammen zu sein. Ich bleibe hart, gehe aufrecht und mit abgewandtem Gesicht in meine Richtung. Abgewandt, damit er nicht sieht, wie die Tränen aus mir hervorbrechen. Aber ich spüre seinen fragenden Blick im Rücken. Ich weiß, dass Jack so dort stehenbleiben und mir lange traurig und verwirrt nachschauen wird.
Egal, mahnt eine harte Stimme in mir. Du tust das Richtige. Vollziehe den Schnitt, zieh die Qual nicht in die Länge. Lass dich nicht verlassen. Sei du diejenige, die verlässt.
Ich erwache in meinem Bett im Mill Creek Manor. Ein schabendes Geräusch dringt an mein Ohr. Etwas in mir sträubt sich dagegen, den Weg in den Wachzustand vollständig zurückzulegen. Es ist so verdammt bequem im Bett. Außerdem hallt die Erinnerung an einen wunderbaren Traum in meinem Körper wider. Ein aufregender Traum voller Frühlingswärme und Blumenduft, an mehr kann ich mich nicht erinnern … und Jack. Jack, der mich küsst, Jack, der mir erzählt, dass er nach Weihnachten in Oxford bleiben und den Kurs beenden wird. Danach will er, dass wir gemeinsam … Nein. Obwohl ich mich noch im Halbschlaf befinde, ist mir vollkommen bewusst, dass es sich nicht um ein gutes Omen, sondern lediglich um einen Wunschtraum handelt. Um eine banale, leere Fantasie, einen Ballon, der platzt, sobald ich ganz erwache und die Wirklichkeit mit voller Kraft wieder über mich hereinbricht.
Und wenn ich jetzt die Augen nicht öffne, wenn ich einfach die Ohren verschließe, um das kratzende Geräusch nicht zu hören, und die Decke über den Kopf ziehe, dann kann ich vielleicht in den Traum zurücksinken … Der Bettbezug kommt mir ungewöhnlich weich vor, obwohl er noch recht neu ist. Er erinnert mich an die zerschlissenen Laken, die wir hatten, als ich ein Kind war. In dem alten Haus. Die Laken, die Mama unzählige Male gewaschen und in die Sonne und den Wind gehängt hatte. Dazu dieser märchenhafte Blumenduft, der mich wie eine Umarmung umschließt, wie zwei parfümierte Arme. Mir ist warm, ich bin schläfrig, ich werde geliebt.
Das Schaben wird lauter. Das Geräusch ritzt und reißt Löcher in meinen wohlig wirren Traumzustand, bis ich hellwach daliege und mich frage, was zum Teufel Nikita da anstellt. Sitzt sie im Mondschein und kratzt mit einem Eisstiel die Kalkablagerungen aus dem Wasserkocher oder was? Dann fällt es mir wieder ein. Sie ist gar nicht zu Hause.
Nikita hatte am Vorabend ein Date mit irgendeinem Typen und wollte bei ihm übernachten. Ich bin allein im Zimmer. Diese Einsicht legt sich wie ein Panzer auf meine Brust. Allein. Meine Haut beginnt zu jucken, und ich merke, dass meine Stirn feucht wird. Plötzlich hört das kratzende Geräusch auf. Die Welt wird betäubend still.
Eine unmerkliche Wendung des Kopfes und ein winziger Spalt jenes Auges, das nicht ins Kissen vergraben ist, genügen, um festzustellen, dass Nikitas Bett tatsächlich leer und vollkommen unberührt ist. In dem silbrig schimmernden Mondlicht sehen die Möbel und alle anderen Gegenstände wie verzaubert aus. Überdeutlich, aber gleichzeitig auch jeglicher Farbe beraubt. Ich irre
Weitere Kostenlose Bücher