Abschiedskuss
mit dem Auge im Zimmer herum, suche nach vertrauten Dingen, Referenzpunkten, die mich beruhigen könnten. Wo kam dieses Geräusch eigentlich her? Eine Maus? Wir werden hier drin doch wohl keine Mäuse haben? Aber denkbar wäre es schon: Mill Creek Manor ist ein altes Gebäude. Mein Blick wandert weiter. Dort hängt mein Mantel, dort stehen unsere gespülten Tassen in dem kleinen Abtropfständer, dort liegt ein Stapel Bücher.
Doch dann dringt durch den kleinen Spalt meines Augenlids der Schimmer von etwas anderem herein. Etwas, das sich am Rand meines Gesichtsfeldes bewegt, dort, wo sich eigentlich nichts bewegen dürfte.
Das muss eine optische Täuschung sein, ein Phantom. Was ich sehe, lässt mich vor Schreck erstarren, und ich bin mit einem Schlag hellwach. Mein Atem stockt. Ich darf nicht atmen, denn dann könnte ich mich verraten, und dann könnte mich dieser zusammengekauerte … Klumpen in der Ecke sehen.
Die dunkle Gestalt scheint auf allen vieren zu hocken, geduckt und zur Hälfte von der Chaiselongue verborgen. Sie bewegt sich fast unmerklich, aber dennoch irgendwie ruckartig. Sie ist offenbar mit etwas hinten an der Wand beschäftigt. Daher dieses kratzende Geräusch. Ich liege reglos mit einem offenen Auge da. Es brennt und ist trocken. Aber ich darf nicht blinzeln. Denn wenn das Wesen die geringste Bewegung aus meiner Richtung wahrnimmt und merkt, dass ich wach bin, wird es auf mein Bett zukriechen und … ich weiß, dass sich dieses Wesen sehr schnell bewegen kann, wenn es will, schnell und unberechenbar und fast ohne Bodenhaftung wie eine, wie eine … der Schwerkraft trotzende große Spinne.
Dann ist die Gestalt mit einem Mal verschwunden. Ich hebe die Wange ganz leicht vom Kissen und merke, dass die Falten des Kissenbezugs einen Abdruck auf meinem Gesicht hinterlassen haben. Ich darf kein Geräusch verursachen, muss vollkommen lautlos sein. Wohin ist das Schattenwesen verschwunden? Meine Arme sind angewinkelt, die Hände vor der Brust gefaltet, als würde ich beten. Das Herz pocht wild gegen meinen Brustkorb wie ein panisch flatternder Vogel in seinem Käfig. Das Wesen muss es hören. Es muss. Lautlos beuge ich mich vor, um besser sehen zu können. Ich bewege mich unendlich langsam, kaum wahrnehmbar, Millimeter um Millimeter näher an die Bettkante heran und damit weiter ins Zimmer.
Plötzlich schießt der große, dunkle Kopf genau unter der Bettkante empor, nur wenige Zentimeter von meinem aufgerissenen Mund entfernt. Das geduckte Wesen bäumt sich über mir auf, und ich denke, jetzt ist alles vorbei. Jetzt zerbreche ich.
Eine eigentümliche Kälte durchdringt meine versteinerten Füße, als hätte sich ein Winterwind irgendwie unter die Bettdecke verirrt. Ich bin gelähmt, kann mich nicht bewegen, liege einfach nur auf der Seite und starre direkt in die gesichtslose dunkle Form, die inzwischen sacht vor meinen Augen hin und her schwankt.
Es beobachtet mich, denke ich.
Es. Oder sie. Ich kann nicht beurteilen, wie lange wir uns so fixieren, einige Minuten oder eine Stunde, aber schließlich blinzele ich, und als ich die Augen wieder öffne, ist es weg. Sie.
»Was willst du?«, flüstere ich verzweifelt ins Zimmer. Aber es ist zu spät.
Ich lasse mich in die Kissen sinken, schwach und kraftlos wie eine Schiffbrüchige, die von einer gewaltigen Welle halb bewusstlos an Land gespült worden ist. Aber von meinem bedenklichen Ruheplatz aus kann ich die Wand hinter der Chaiselongue sehen. Der Mond scheint jetzt hell wie ein Scheinwerfer herein. Die Wand ist nicht mehr so glatt und sauber wie beim Zubettgehen. Etwas steht dort geschrieben, genau über der Fußleiste. Nein, nicht geschrieben, das sehe ich, als ich endlich auf die Beine komme und dorthin wanke. Die Buchstaben sind in die Wand geritzt. Ich falle auf die Knie und sehe Fragmente eines schmutzig rosafarbenen Nagels in der abgekratzten Wandfarbe und der Spanplatte der Wand.
DER FEIND IST MITTEN UNTER UNS
Mir wird schwindelig und übel. Schwer lasse ich mich auf Nikitas Bett fallen. Die Dämmerung ist auf dem Weg, und ein schwaches, rauchfarbenes Licht verdünnt allmählich das kompakte Blauschwarz der Nacht.
»Der Feind ist mitten unter uns«, wiederhole ich tonlos. Immer wieder, bis ich mich in Nikitas Kissen und die Geborgenheit ihres Geruchs fallen lasse.
Ich liege auf dem schmalen Bett, in dieser einsamsten aller Stunden des Tages, in diesem alten Haus, inmitten von Fremden und Gespenstern, und erkenne mein eigenes Gesicht nicht
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