Abseitsfalle. Kadir Bülbüls zweiter Fall
wandte sich Madlen der
Frau zu, die sich soeben vorsichtig, als müsste sie sich auf einen Eierkarton
setzen ohne die Eier zu zerquetschen, zu ihrer Rechten niedergelassen hatte und
verunsichert die große Anzahl funkelnder Bestecke inspizierte. Dann fiel ihr
Blick auf das Schokoladenschaf und ihre Züge entspannten sich.
»Das
ist ja allerliebst! Was für eine nette Idee!«
Saskia
Haverkorn legte die Handflächen auf die Tischkante und beugte sich vor, um das
Schäfchen genauer zu begutachten. Ihre Ellenbogen staken nach hinten und
stießen gegen ihre Stuhllehne.
»Das
ist was für den Kleinen, da freut er sich!«
Hätte
die sich nicht mal ein bisschen was Anständiges anziehen können? Madlen
musterte das beige-braun geringelte Sweatshirt ihrer Nachbarin mit Abscheu. Diniert
diese Person jeden Abend mit Menschen unseres Schlages, oder woher nimmt sie
sich die exzentrische Freiheit, das Wort Abendgarderobe so gründlich misszuverstehen?
Durch
ihren Beruf gewohnt anderen Menschen, die sie für minderwertig hielt, nicht
sofort zu zeigen, was sie von ihnen dachte, sondern sie an die Hand zu nehmen
und ein Stück des Weges liebevoll bis an den Rand der Klippen zu geleiten, bis
ein kleiner Stoß, eine winzige Boshaftigkeit genügte, um sie in den Abgrund zu
kegeln, lächelte Madlen bestätigend.
Saskia
Haverkorn langte über Madlens Teller und stellte ihr Schokoschaf wieder auf.
»Das
war hingefallen!«, erklärte sie und blinzelte Madlen freundlich an. Saskias Schultern
zuckten sachte auf und ab, als müsste sie einen Schluckauf unterdrücken, und
Madlen erkannte zu ihrer Genugtuung, dass die Person anscheinend doch sehr nervös
war. Schließlich traf man auch nicht jeden Tag eine Frau vom Kaliber einer
Madlen Erdmann, man las höchstens von ihr, beim Schrummelfrisör in der
langweiligen Fußgängerzone irgendeines faden Provinznestes, aus dem diese
bleiche Gestalt sicher kam, man bewunderte ihr Foto und fragte sich, was für
ein herrliches Leben sie wohl führte. Ja, dachte Madlen, ein herrliches Leben,
ein aufregendes Leben in Bütte-Erkenroytz! Wenn ich meinen Job nicht hätte,
würde ich mich erschießen.
»Oh,
nehmen sie doch bitte auch mein Schäfchen für Ihren Kleinen!«, antwortete sie
gönnerhaft und schob Saskia ihr Schokoschaf hin. »Wie alt ist er denn, der
kleine Schatz?«
Madlen
musterte die Frau, die vor Freude errötete und fassungslos auf das zweite
Schäfchen starrte, das der Himmel ihr geschenkt hatte. Welcher Typ hatte der
denn in ihrem Alter noch ein Kind gemacht? Die Kinnlinie wabbelte doch
sicherlich nicht erst seit gestern sondern schon ein ganzes Weilchen, und die
Speckrollen unter dem scheußlichen Pulli waren gewiss auch nicht die Folge
einer eben erst überstandenen Niederkunft.
»Oh,
aber da drüben sitzt er doch!« Saskia deutete auf das Willem gegenüberliegende
Kopfende. »Das ist mein Nikolaus. Ist am sechsten Dezember geboren, deshalb Nikolaus.
Fand ich schon ziemlich witzig, damals. Und immer noch.«
Madlen
neigte sich nach vorne und betrachtete den Teenager, der verkrampft am Ende des
Tisches kauerte, den Kopf so tief gebeugt, dass seine strähnigen Haare den
Teller berührten. Der Kleine. Soso. Wirklich noch ein Baby mit Rassel. Na,
vermutlich können wir nachher die Menüfolge aus deiner Haartracht kämmen, mein
Junge, dachte Madlen.
Nikolaus
hob den Kopf, als hätte er ihre Gedanken gehört und blickte ausdruckslos zu ihr
hinüber. Sein Gesicht glänzte ölig, die Pickel leuchteten frisch ausgedrückt
und geschrubbt auf der Stirn.
»Meine
Teure, so klein ist Ihr Spross denn auch nicht mehr, nicht wahr? Tempus fugit,
tempus fugit!«
Herbert
Schmalfuß, der neben Addi, der aufpasste, dass Willem nicht vor den anderen zu
essen anfing, und gegenüber Rocco Platz genommen hatte, beugte sich über den
Tisch und lächelte Frau Haverkorn freundlich zu.
»Ach,
für mich wird er immer der Kleine bleiben und wenn er fünfzig Jahre alt ist!«
Saskia
Haverkorn winkte mit wedelnder Hand ab und strahlte abwechselnd Madlen und Herbert
Schmalfuß an, als sei diese bewusste Verkennung der Wirklichkeit eine ungeahnte
Leistung.
Julia
Grambrod, die sich extra heute Morgen ein für türkische Verhältnisse sündhaft
teures Abendkleid gekauft hatte und sich nun ärgerte, dass sie an diesem
besonderen Abend schon wieder das nervige Getue von Saskia Haverkorn ertragen
musste, rückte resigniert den ihr bestimmten Stuhl nach hinten und setzte sich Saskia
gegenüber. Zumindest wusste sie
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