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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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lächelte er bitter. „Das ist aber typisch Ange. Denk mal drüber nach, Patrick! Angie hat zwar immer diese Tour drauf, leck mich am Arsch, ich brauch dich nicht. Aber sie kann keinen SchlussStrich ziehen. Egal wobei, das ist ihre Schwäche. Was glaubst du, warum sie noch im Haus ihrer Eltern wohnt? Mit den ganzen Möbeln, die schon seit ihrer Kindheit hier stehen?“
Ich blickte mich um, sah die uralten schwarzen Töpfe ihrer Mutter in der Speisekammer, die Zierkissen auf den Ritzen der Couch, und merkte, dass Phil und ich auf Stühlen
saßen, die ihre Eltern bei Marshall Field in Uphams Corner gekauft hatten, was irgendwann Ende der Sechziger abgebrannt war. Es gibt Sachen, die stehen dein Leben lang vor deiner Nase, doch manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. „Du hast recht“, gab ich zu.
„Was glaubst du, warum sie nie aus Dorchester weggezogen ist? Sie ist so ein intelligentes, gutaussehendes Mädchen, aber auf unserer Hochzeitsreise war sie zum ersten Mal außerhalb der Staatsgrenzen von Massachusetts. Was glaubst du, warum sie zwölf Jahre gebraucht hat, um mich zu verlassen? Jede andere wäre nach sechs Jahren weg gewesen. Aber Angie kann nicht weggehen. Das ist ihr Fehler. Hat wahrscheinlich was damit zu tun, dass ihre Schwester genau das Gegenteil ist.“
Ich weiß nicht, was ich für ein Gesicht machte, doch hob er entschuldigend die Hände.
„Heikles Thema“, meinte er, „hab ich vergessen.“
„Was willst du damit sagen, Phil?“
Er zuckte mit den Schultern. „Angie kann keinen Schluss-Strich ziehen, deshalb wird sie sich bemühen, dass ich weiter zu ihrem Leben gehöre.“
„Und?“
„Das werde ich nicht zulassen. Ich bin für sie ein Klotz am Bein. Jetzt müssen wir – weiß nicht – die Wunden verheilen lassen. Die Sache abschließen. Sie muss wissen, dass ich an allem schuld bin. Es war alles meine Schuld. Nicht ihre.“
„Und wenn das vorbei ist?“
„Bin ich weg. In meinem Beruf kann ich überall Arbeit finden. Reiche Leute bauen immer ihre Häuser um. Deshalb mach ich mich bald auf die Socken. Ich denke, ihr beide habt eine Chance verdient.“
„Phil…“
„Bitte, Pat! Bitte“, unterbrach er mich. „Ich mein’s ehrlich. Wir sind immer Freunde gewesen. Ich kenne dich. Und ich kenne Angela. Mit Grace hast du jetzt vielleicht ‘ne schöne Zeit, und das finde ich wirklich toll. Echt. Aber denk mal nach!“ Er stieß mich mit dem Ellenbogen an und sah mir in die Augen. „Okay? Junge, mach dir zum ersten Mal im Leben nichts vor. Du bist schon seit dem Kindergarten in Angie verliebt. Und sie in dich.“
„Sie hat dich geheiratet, Phil.“ Ich erwiderte den Stoss mit dem Ellenbogen.
„Weil sie sauer auf dich war…“
„Das ist nicht der einzige Grund.“
„Ich weiß. Sie liebte mich auch, ‘ne Zeitlang hat sie mich vielleicht sogar mehr geliebt. Das bezweifle ich auch gar nicht. Aber wir können mehr als einen Menschen gleichzeitig lieben. Wir sind Menschen, also sind wir chaotisch.“
Ich lächelte und merkte, dass es das erste Mal seit zehn Jahren war, dass ich in Phils Gegenwart ungezwungen lächelte. „Das stimmt.“
Wir sahen einander an, und ich spürte wieder die alte Nähe zwischen uns – das Band heiliger Freundschaft und einer gemeinsamen Kindheit. Phil und ich fühlten uns zu Hause nie akzeptiert. Sein Vater war Alkoholiker und ein unverbesserlicher Weiberheld, der mit jeder Frau in der Gegend schlief und dafür sorgte, dass seine Frau es auch erfuhr. Als Phil sieben oder acht war, war sein Zuhause zum Sperrgebiet geworden, in dem Teller und Anschuldigungen durch die Luft flogen. Sobald sich Carmine und Laura Dimassi im selben Zimmer befanden, wurde es ungefähr so gemütlich wie in Beirut, doch weigerten sie sich aus einem falsch verstandenen Katholizismus heraus, sich scheiden zu
lassen oder auch nur getrennt zu leben. Ihnen gefielen die täglichen Scharmützel und leidenschaftlichen nächtlichen Schäferstündchen nach der Versöhnung, bei denen ihr Bett gegen die Wand des benachbarten Kinderzimmers bumste.
Ich war aus anderen Gründen so selten wie möglich zu Hause, und so suchten Phil und ich gemeinsam eine Zuflucht, und der erste Ort, wo wir uns beide wohl fühlten, war ein verlassener Taubenschlag auf dem Dach einer Industriegarage in der Sudan Street. Wir kehrten die ganze Vogelscheiße heraus und verstärkten den Boden mit alten Palettenbrettern. Dann hievten wir einige ausrangierte Möbelstücke hinein, und bald nahmen wir andere

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