Absender unbekannt
schob sich mit der linken Hand die schweren Locken aus dem Gesicht. Sie stützte sich auf den Ellenbogen, und ich bemerkte ihre Brüste unter dem High-School-T-Shirt. „Was ist los?“
„Nichts“, beruhigte ich sie.
„Schlecht geträumt?“
Sie setzte sich auf, ein Bein unter dem Po, das andere glitt glatt und nackt unter der Bettdecke hervor.
„Ich dachte, ich hätte was gehört.“ Ich nickte in Richtung des Fensters. „War aber nur der Zweig von dem Baum da.“
Sie gähnte. „Den will ich schon lange abschneiden lassen. „ „Außerdem ist überall das Licht ausgefallen. In der ganzen Stadt.“ Sie lugte unter den Rollläden hervor. „Oh!“
„Dünn meinte, im ganzen Staat seien die Transformatoren kaputt.“ „Nein, nein“, sagte sie plötzlich, warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. „So nicht. Zu dunkel.“
Sie rumorte in ihrem Schrank herum, bis sie einen Schuhkarton fand. Den stellte sie auf den Boden und holte eine Handvoll weißer Kerzen hervor.
„Soll ich dir helfen?“ bot ich mich an.
Sie schüttelte den Kopf und verteilte die Kerzen im ganzen Zimmer auf Kerzenhalter und Leuchter, die ich im Dunkeln nicht erkennen konnte. Überall standen Kerzen: auf den beiden Nachtschränken, dem Wandschrank, der Frisierkommode. Es war schon fast beunruhigend, ihr beim Anzünden der Dochte zuzuschauen, denn sie betätigte mit dem Daumen unaufhörlich den Anzünder des Feuerzeugs, während sie von einer Kerze zur nächsten kroch, bis alle Dochte entzündet waren und flackernd ihr Licht an die Wände warfen.
In weniger als zwei Minuten hatte sie das Schlafzimmer in eine kleine Kapelle verwandelt.
„So!“ sagte sie und schlüpfte wieder unter die Decke.
Über eine Minute lang sprach keiner von uns ein Wort. Ich sah zu, wie die Flammen flackerten und zunahmen, wie das warme gelbe Licht auf unserer Haut spielte, wie es in ihrem Haar glühte. Sie drehte sich um, so dass sie mir ins Gesicht sehen konnte, die Beine hatte sie verschränkt und an die Brust gezogen, die Bettdecke unter die Hüfte geschoben. Sie knetete die Decke mit den Händen, neigte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn, so dass ihr das Haar locker über die Schultern und den Rücken fiel.
„Ich träume ständig von Leichen“, sagte sie.
„Ich nur von Evandro“, entgegnete ich.
„Und was macht er?“ Sie beugte sich ein wenig vor.
„Er kommt näher, immer näher.“
„In meinen Träumen ist er schon da.“
„Dann sind die Leichen…“
„Das sind unsere Leichen.“ Sie presste die Hände im Schoss zusammen und sah sie an, als erwarte sie, dass sie sich von selbst wieder voneinander lösten.
„Ich will nicht sterben, Patrick!“
Ich lehnte mich gegen die Kopfstütze. „Ich auch nicht.“
Sie beugte sich vor. Sie wirkte geheimnisvoll mit den im Schoss zusammengepressten Händen, dem vorgebeugten Oberkörper und ihrem vom dichten Haar umrahmten, fast versteckten Gesicht. „Wenn er uns kriegt…“
„Das schafft er nicht.“
Sie lehnte die Stirn gegen meine. „Doch.“
Das Haus quietschte, kam der Erde einen weiteren Hundertstel Zentimeter näher.
„Wir sind bereit, wenn er kommt.“
Sie lachte, doch klang es kehlig, erstickt.
„Wir sind fertig mit den Nerven, Patrick. Du weißt es, ich weiß es, und er weiß es wahrscheinlich auch. Wir haben seit Tagen nicht mehr richtig gegessen oder geschlafen. Er hat uns emotional und psychisch erledigt, und in jeder anderen Hinsicht auch.“ Sie legte ihre feuchten Hände auf meine Wangen. „Wenn er will, macht er uns fertig.“
Ich spürte ein Zittern, so als jagten Stromstösse durch ihre Hände. Ihr Körper bebte vor Aufregung. Ich wusste, dass sie recht hatte. Wenn er wollte, machte er uns fertig.
Diese Erkenntnis war furchtbar und verheerend, es war die elementarste Form der Selbsterkenntnis: Wir waren nichts anderes, wir beide, als eine Ansammlung von Organen, Muskeln und Sehnen, die hinter einer zerbrechlichen, vergänglichen äußeren Hülle durch Blutadern miteinander verbunden waren. Und Evandro konnte kommen und uns einfach ausschalten, wie man einen Lichtschalter betätigt, und schon würde unser System aus Organen und Venen nicht mehr arbeiten, das Licht würde erlöschen, die Finsternis wäre total.
„Denk dran, was ich dir gesagt habe“, erinnerte ich sie. „Wenn wir sterben, nehmen wir ihn mit.“
„Ja, und?“ rief sie. „Was soll das, verdammt noch mal? Ich möchte Evandro aber nicht mitnehmen. Ich möchte einfach nicht sterben. Ich will, dass er mich in Ruhe
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