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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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bist anderer Meinung“, warf Angie ein.
Er zuckte mit den Achseln und blickte kurz aus dem Fenster. „Als ich so alt war wie er, wohnte ich im gleichen Zimmer hier auf dem Campus und war vorher auch ein ziemlich in mich gekehrtes Kind gewesen und kam hier, genau wie Jason, das erste Mal aus mir heraus. Ich meine, so ist die Uni. Man lernt, trinkt, raucht Gras, pennt mit Leuten, die man nicht kennt, hält sein Mittagsschläfchen. Das ist doch normal, wenn man mit achtzehn an so einen Ort kommt.“
„Du hast mit Leuten, die du nicht kanntest, geschlafen?“ fragte ich. „Ich bin schockiert!“
„Und das ist mir heute peinlich. Wirklich. Na gut, ich war ja auch kein Heiliger, aber bei Jason ist diese radikale Wendung hin zu Exzessen von den Ausmaßen eines Marquis de Sade doch ein bisschen drastisch.“
„Marquis de Sade?“ wiederholte ich. „Ihr Intellektuellen, also wirklich, ihr redet immer ultracool!“
„Woher kommt also diese Veränderung? Was will er beweisen?“ fragte Angie.
„Ich weiß es nicht genau.“ Eric neigte den Kopf zur Seite, so dass er mich, wie schon so oft, an eine Kobra erinnerte. „Jason ist ein guter Junge. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass er in etwas verwickelt ist, das ihn oder seine Mutter in Gefahr bringt, aber na ja, obwohl ich ihn von klein auf kenne, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass er einmal einen Don-Juan-Komplex entwickeln würde. Habt ihr die Mafia-Connection verworfen?“
„Eigentlich ja“, antwortete ich.
Er verzog die Lippen und atmete langsam aus. „Dann weiß ich auch nicht weiter. Was ich über Jason weiß, habe ich euch erzählt. Ich wüsste auch gerne mit absoluter Sicherheit, wer er ist oder nicht ist, aber ich bin jetzt schon lange genug dabei, um begriffen zu haben, dass man niemanden wirklich kennt.“ Er wies auf seine Bücherregale, die mit Werken zur Kriminologie und Psychologie vollgestopft waren. „Wenn ich in den ganzen Jahren an der Uni etwas gelernt habe, dann das.“
„Tiefschürfend“, merkte ich an.
Eric lockerte seine Krawatte. „Du hast mich nach meiner Meinung über Jason gefragt, und ich hab sie dir erzählt, aber über allem steht meine Überzeugung, dass alle Menschen ihre kleinen Geheimnisse haben.“
„Und was ist deins, Eric?“
Er zwinkerte. „Das wüsstest du gerne, hm?“
Als wir wieder nach draußen in den Sonnenschein traten, hakte sich Angie bei mir ein. Dann setzten wir uns auf die Wiese unter einen Baum und beobachteten die Eingangstür, durch die Jason in wenigen Minuten treten sollte. Bei der Verfolgung einer Person ein Liebespaar zu spielen gehört zu
unseren alten Tricks; wenn jemand einen von uns an irgendeinem Ort auffällig findet, würdigt er uns keines Blickes mehr, wenn wir als Paar auftauchen. Aus irgendeinem Grund öffnen sich manche Türen für Liebende, die für Einzelpersonen verschlossen bleiben. Sie sah zu dem Gewirr von Blättern und Zweigen im Baum über uns auf. Die feuchte Luft wehte gelbe Blätter über trockene Grashalme, und Angie lehnte den Kopf an meine Schulter und ließ ihn eine ganze Weile dort.
„Alles in Ordnung?“ fragte ich.
Sie drückte mir mit der Hand den Arm.
„Ange?“
„Ich habe gestern die Papiere unterschrieben.“
„Was für Papiere?“
„Die Scheidungspapiere“, antwortete sie sanft. „Die lagen schon seit über zwölf Monaten bei mir zu Hause herum. Ich hab sie unterschrieben und bei meinem Anwalt abgegeben. Einfach so.“ Sie bewegte leicht den Kopf und legte ihn dann wieder an meine Schulter. „Als ich meinen Namen druntersetzte, hatte ich das Gefühl, es würde nun alles irgendwie viel klarer.“ Ihre Stimme war belegt. „War das bei dir auch so?“
Ich dachte darüber nach, wie ich mich gefühlt hatte, als ich im klimatisierten Zimmer eines Anwalts saß und meine kurze, armselige, fehlgeschlagene Ehe abhakte, indem ich auf einer gestrichelten Linie unterschrieb, die Papiere dreimal sauber faltete und in einen Umschlag schob. Auch wenn es therapeutisch wirken kann, die Vergangenheit einzupacken und eine Schleife drumzubinden, es hat doch etwas Erbarmungsloses an sich.
Meine Ehe mit Renee hatte keine zwei Jahre gedauert, und ich war in vielerlei Hinsicht in weniger als zwei Monaten darüber hinweggewesen. Aber Angie war über zwölf
Jahre lang mit Phil verheiratet gewesen. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie es sein mochte, zwölf Jahre hinter sich zu lassen, auch wenn der Grossteil davon noch so schlecht gewesen sein mochte. „Ist dadurch

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