Absender unbekannt
Gesichtszüge grotesk wirkten – der Kopf einer ausgemergelten Hexe auf dem Körper eines jungen Mannes. Die großen Augen waren hell und irgendwie aufdringlich, die vollen Lippen verächtlich verzogen.
„An dem Tag wurde er verurteilt.“
Das letzte Foto war am Tag seiner Entlassung aufgenommen worden. Er hatte das Haar offenbar mit Kohle
gefärbt und außerdem zugenommen. Die Lippen hatte er gespitzt. „Wie kann so ein Typ hier rauskommen?“ rief Bolton. „Der sieht total abgedreht aus.“
Ich starrte auf das zweite Bild, auf den jungen Evandro mit den dunklen Haaren, dem unversehrten Gesicht und den vor Angst weit aufgerissenen Augen.
„Er wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt“, sagte Lief. „Nicht wegen Mordes. Nicht mal wegen Totschlags. Ich wusste, dass er Sussex ohne Grund aufgeschlitzt hat, aber ich konnte es nicht beweisen. Und die Wunden von Sussex und Arujo sahen damals aus, als hätten sie eine Messerstecherei hinter sich.“ Er zeigte auf Arujos Stirn auf dem jüngsten Foto. Über die Stirn zog sich eine schmale, weiße Linie. „Sehen Sie das? Messernarben. Sussex konnte uns ja nicht mehr sagen, was passiert war, und Arujo behauptete, es sei Notwehr gewesen, der Schnitt sei von Sussex gewesen. Dafür bekam er acht Jahre, weil der Richter ihm zwar nicht glaubte, aber auch nicht das Gegenteil beweisen konnte. Unsere Gefängnisse sind absolut überbelegt, falls Sie das nicht wissen sollten, und Insasse Arujo war in jeder anderen Hinsicht ein Bilderbuchhäftling, der seine Zeit absaß und seine Entlassung auf Bewährung verdient hatte.“
Ich betrachtete die verschiedenen Inkarnationen von Evandro Arujo. Verletzt. Jung und verängstigt. Ruiniert und verdorben. Hager und leer. Ungeduldig und gefährlich. Und ich wusste es, ich war mir absolut sicher, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte. Ich wusste bloß nicht mehr, wo.
Ich ging alle Möglichkeiten durch.
Auf der Strasse. In einer Kneipe. Im Bus. In der U-Bahn. Als Taxifahrer. Beim Sport. Beim Football. Im Kino. Bei einem Konzert. Im… „Hat jemand einen Stift?“
„Was?“
„Einen Stift“, wiederholte ich, „einen schwarzen. Oder einen Edding.“
Ich nahm den Filzstift, den Fields mir hinhielt. Dann zog ich ein Foto von Evandro aus dem Laserdrucker und malte darauf herum. Lief stellte sich neben mich und sah mir über die Schulter. „Warum malen Sie dem Mann denn einen Bart, Kenzie?“
Vor mir lag das Bild des Mannes, den ich im Kino gesehen hatte, das Gesicht, von dem Angie ein Dutzend Fotos gemacht hatte. „Damit er sich nicht mehr verstecken kann.“
24
Devin faxte uns eins von Evandro Arujos Fotos, die Angie ihm gegeben hatte, und Erdham las es in seinen Computer ein. Wir fuhren im Schneckentempo auf der 95, der Wagen steckte im mittäglichen Verkehrschaos fest. Bolton sagte am Telefon zu Devin: „Ich möchte, dass unverzüglich ein Steckbrief ausgegeben wird!“ Dann drehte er sich um und bellte Erdham an: „Such den Namen von seinem Bewährungshelfer raus!“
Erdham warf Fields einen kurzen Blick zu, der auf einen Knopf drückte und antwortete: „Sheila Lawn. Büro im Saltonstall Building.“ Bolton sprach noch immer mit Devin: „… eins achtundsiebzig, zweiundachtzig Kilo, dreißig Jahre, einziges besonderes Merkmal ist eine dünne Narbe, zweieinhalb Zentimeter lang, oben auf der Stirn, direkt unterm Haaransatz, Stichverletzung…“ Mit der Hand deckte er die Muschel ab. „Kenzie, ruf sie an!“
Fields gab mir die Telefonnummer, und ich nahm mir einen der tragbaren Apparate und wählte. Inzwischen baute sich Evandros Bild auf Erdhams Bildschirm auf. Sofort machte er sich daran, die Auflösung und die Farben zu optimieren.
„Büro Sheila Lawn.“
„Ms. Lawn, bitte.“
„Am Apparat.“
„Ms. Lawn, mein Name ist Patrick Kenzie. Ich bin Privatdetektiv und brauche Informationen über einen Ihrer Schützlinge.“
„Einfach so?“
„Wie bitte?“
Der Van wechselte die Spur, doch dort floss der Verkehr kaum merklich schneller – sofort fingen mehrere Autos an zu hupen. „Sie glauben doch nicht, dass ich einem Mann, der einfach so am Telefon behauptet, ein Privatermittler zu sein, etwas über einen meiner Freigänger erzähle, oder?“
„Also…“
Bolton beobachtete mich, während er Devins Worten lauschte, dann riss er mir plötzlich das Telefon aus der Hand und sprach aus dem Mundwinkel hinein, ohne seine Aufmerksamkeit von Devin abzuwenden.
„Officer Lawn, ich bin Spezialagent Barton Bolton vom FBI. Ich bin
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