Absolut WILD 3
Leichentuch.«
Mama schaute zur Küchentür, und uns war klar, dass sie daran dachte, wie Papa uns zu Hause abgesetzt hatte. Bleich und zitternd vor Angst, weil er die unlösbarste Aufgabe der Welt übernommen hatte, war er gleich wieder in die Dunkelheit entschwunden, um über seinen bevorstehenden Tod zu grübeln.
»Und ich habe das Gefühl, es ist alles meine Schuld«, sagte Tori niedergeschlagen. »Wenn ich nicht gesagt hätte, dass Papa den Unterschied …«
»Du musstest etwas sagen«, unterbrach ich sie. »Papa hat doch keinen Ton rausgebracht! Und es stimmt ja auch, dass er sich mit Pferden auskennt. Er hat schon überall welche fotografiert, in Afrika und Sibirien und was weiß ich wo. Es war dein gruseliger Regisseur, der daraus geschlossen hat, dass Papa bis Freitag wirklich kurdische Pferde besorgen kann.«
Mama bekam wie auf Kommando feuchte Augen. Sie drückte Boris an sich, der in ihren Armen döste. Es war nicht so klar zu erkennen, wer da gerade wen tröstete.
Boris war am Nachmittag nach einem hässlichen Zwischenfall gerettet worden, als Ivana ihn fast gebissen hätte. Sasha und Anna waren für kräftig genug befunden worden, um mit der Situation zurechtzukommen – wenigstens bis Dr. Nik und Mama herausgefunden hatten, was mit Ivana los war. Aber Boris’ Bein war nicht in Ordnung, und er hatte einen gewaltigen Hunger. Er hatte eine Riesenportion Milch getrunken und war dann zu Hasis größtem Entzücken in ihrem Korb eingeschlafen und hatte dabei sein verbundenes Bein in die Luft gestreckt.
Mama hatte ihn allerdings mit ihrem aufgeregten Gekreische geweckt. Er war schon ziemlich schwer, aber wir hatten ihn alle abwechselnd auf den Schoß genommen und geknuddelt. Sein Fell roch nach Moschus und Milch. Nun saß Hasi auf ihrem dicken gelben Hinterteil neben dem Tisch und schmachtete den kleinen Bären an, der sich in Mamas Armbeuge kuschelte. Ein absolutes Muttertier, dieser Hund!
»Vielleicht findet Papa ja wirklich die richtigen Pferde«, sagte ich. »Er hat jede Menge Beziehungen.«
»Vielleicht kann er Pferde finden, die wie kurdische Pferde aussehen , und Pavlov Valkyrie irgendwie glauben machen, sie wären echt«, sagte Tori.
Au weia. Wenn sogar Tori sich etwas vormachte und sich einredete, man könnte ihr Idol »irgendwie« überlisten, sah es wirklich schlecht für Papa aus. Ich dachte wehmütig an Starlight. Es war schade, dass wir sie nun doch nicht mehr wiedersehen würden.
Boris nieste und grunzte verschlafen. Hasi winselte hoffnungsvoll, als der kleine Bär seine schwarzen Knopfaugen öffnete.
»Hallo, Boris«, sagte Tori und richtete ihre Aufmerksamkeit auf unser neues Familienmitglied. »Was glaubst du, Mama, wie lange müsst ihr ihn von Ivana getrennt halten?«
Mama streichelte Boris zwischen den Ohren. Er gähnte. »Es ist wichtig, dass wir ihn so lange hierbehalten, bis sein Bein ausgeheilt ist. Wenn wir ihn zu früh wieder zu ihr setzen, hat er keine Chance – zumal Ivana so aggressiv ist.«
Tori sah sie bestürzt an. »Du meinst, er würde sterben?«
»Ja, ich fürchte, das würde er«, sagte Mama leise. »Wir hätten der Natur vielleicht ihren Lauf lassen sollen, aber … Ich konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen. Schließlich war ich diejenige, die dafür gesorgt hat, dass Ivana mit ihren Kleinen hierhergekommen ist.« Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Ob das die richtige Entscheidung war, queridas ?«
Tori und ich schauten uns Boris an. Der schlafende kleine Bär mit seinem verbundenen Bein sah wirklich verletzlich und wehrlos aus, auch wenn er inzwischen so groß war wie der Polsterhocker in unserem Wohnzimmer.
»Natürlich, Mama!«, sagte ich bestimmt. »Wir kümmern uns um ihn, bis sein Bein wieder okay ist und Ivana sich beruhigt hat, und dann wird alles wieder gut.«
Mama seufzte. »Sein Bein ist gar nicht unsere größte Sorge. Ich wünschte, wir wüssten, wie wir Ivana helfen können. Sie läuft den ganzen Tag durch ihr Gehege, und entweder ignoriert sie ihre Jungen oder verhält sich aggressiv ihnen gegenüber. Wenn es so weitergeht, müssen wir Anna und Sasha vielleicht auch rausnehmen, obwohl ihnen nichts fehlt.«
»Ivana muss im Zirkus wohl doch schlimmere Sachen erlebt haben, als wir gedacht haben«, sagte ich und hatte Mitleid mit der Bärin. Sie war zwar anständig gefüttert und dem Anschein nach auch gut behandelt worden, aber was für eine Erklärung konnte es sonst geben?
»Möglicherweise.« Mama rieb sich die Augen. »Wir
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