Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
mich zu den letzten Wochen vor deinem Verschwinden geführt hat, den Tagen, die du in der Gesellschaft von Sam verbracht hast. Ich wende mich stattdessen einem willkürlich aus der Mitte des Stapels gezogenen Band zu und wundere mich, wie es möglich ist, dass ich diese zehn Bände zwanzig Jahre lang weitgehend ungelesen gelassen habe. Doch das stimmt nicht ganz. In Momenten der größten Schwäche und Not und Trauer habe ich einen davon zur Hand genommen, eine einzelne Seite gelesen, bis ich nicht mehr klar genug sehen konnte, um weiterzulesen, und habe sie dann wieder für Monate oder Jahre in den Safe gelegt. Jede Hoffnung, die ich hatte, dass die Bücher möglicherweise Hinweise auf deinen Aufenthaltsort liefern könnten, wurde von meiner selbstsüchtigen Trauer überwältigt.
    Das Notizbuch, das ich jetzt in die Hand nehme, stammt aus dem Jahr, als du für den Cape Record zu arbeiten begonnen hast. Du warst in die möblierte Wohnung über einem Laden in der Lower Main Road im Observatory-Viertel gezogen. An einem typischen Morgen bist du früh aufgestanden, um draußen auf dem überdachten Balkon zu sitzen, den Verkehr, Leute und Autos zu beobachten, den Nachbarn zuzuwinken und ihnen etwas zuzurufen, eine junge Weiße in einem grauen Viertel. (»Möchtest du nicht wohnen, wo es sicherer ist?«, habe ich gefragt, wie du schreibst. Deine Erwiderung: »Ich möchte nicht wie du mitten in einer tristen, finsteren Vororthölle wohnen.«)
    Dein Vater hat dir Geld gegeben, damit du über die Runden kamst, obwohl ich das damals nicht gewusst habe. Ich hätte protestiert und gesagt, du solltest erst einmal versuchen, dein Leben ohne unsere Hilfe zu organisieren, und ich hätte dabei vergessen, wie meine Eltern meine Wanderjahre im Ausland unterstützt hatten. Ich war damals viel weniger zielstrebig, viel verschwenderischer, als du je gewesen bist, weniger edel in meinen Zielen. Du wolltest die Wahrheit sagen, ich wollte fabulieren und erfinden. In einer solchen Zeit, an einem solchen Ort, wen lohnte es sich mehr zu unterstützen als dich? Du und dein Bruder habt beide die Wahrheitsliebe eures Vaters geerbt. Ich muss das einfach als eine Anklage gegen mein eigenes beruflich bedingtes Lügen ansehen.
    Nach deinem Morgenkaffee hast du geduscht, dich schlicht und wenig fraulich gekleidet und bist auf die Straße hinuntergegangen, hoffend, dass dein zerbeulter gelber Valiant noch da wäre, wo du ihn am Abend zuvor geparkt hattest. (Er ist einmal gestohlen worden; dein Vater half dir, einen anderen zu kaufen, bezahlte einen früheren Studenten dafür, dass du in seiner Auffahrt ein paar Straßen weiter parken konntest – noch ein Geheimnis, das ich nicht kannte.) Jeden Arbeitstag bist du eine Viertelstunde auf der Victoria Road ins Stadtzentrum gefahren, hast geparkt und bist ins Büro gegangen.
    Zuerst wurde dir, jung und frisch diplomiert von der Rhodes-Universität, von den Herausgebern deiner Zeitung nur gestattet, die Nachrufe zu verfassen. Im Notizbuch hast du knappe Schilderungen der Lebensläufe deiner Sujets niedergeschrieben:
    Ein Ladeninhaber im Ruhestand mit drei abwesenden Kindern, die alle nach England ausgewandert sind. Gesellschaft leistete ihm nur ein verkrüppelter Dackel. Der Hund wird eingeschläfert werden müssen, weil niemand ihn aufnehmen will. Ich mache aus dem Mann einen Lokalpropheten, übertreibe seine Bedeutung und die Auswirkung, die sein Tod auf die Nachbarschaft hat. Aus Neugier bin ich zum Begräbnis gegangen. Zwei seiner Kinder (Snobs, aber sie trauern laut; der Sohn wirkt, als erschreckte ihn jeder, der ihm über den Weg läuft) sind aus London gekommen und dann sind da noch ein paar alte Damen aus der Straße, wo der Mann gelebt hat. Das ist alles. Weniger als zehn Menschen auf der Beerdigung. Das nächste Mal sollte ich wohl besser behaupten, der Mann war der wiedergekehrte Christus, nicht bloß ein Prophet, und dann die Menschenmassen zusammenströmen sehen.
    Jeden Vormittag hast du über den Todesanzeigen gebrütet. An manchen Tagen fandst du zwei oder drei schon vom Nachtlektor markierte Anzeigen vor, die einen Nachruf verdienten; an anderen Tagen hast du selbst ausgewählt, Personen von offensichtlicher lokaler oder nationaler Bedeutung, aber auch andere, wie den ehemaligen Ladeninhaber, Männer und Frauen, die niemand für wichtig hielt, außer die wenigen, die sie kannten und liebten.
    Zwischen den Nachrufen gestattete der Herausgeber dir kleine Reportageaufträge zu allgemeinen

Weitere Kostenlose Bücher