Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
Sie aber gern innerhalb der nächsten sechs Monate besuchen, wenn es denn möglich ist.
    Ich möchte mich auch noch einmal entschuldigen. Beim Transkribieren unserer Interviews stelle ich jetzt fest, wie einfältig meine Fragen waren und wie unreif. Ich weiß gar nicht, wie Sie die Geduld dafür aufgebracht haben. Manchmal höre ich bei den Aufnahmen Ihrer Stimme die Verärgerung an, aber nur Ihrer Stimme. Dafür danke ich Ihnen – für die von Ihnen geübte Zurückhaltung und Ihre geduldigen Worte.
    Mit freundlichen Grüßen
Sam
    Ehe ich mich auf den Weg nach unten mache, um etwas zu essen, informiere ich mich, wo im Hauptgebäude sich das Büro von Lionel Jameson befindet. Wenn er es ist, und ich bin mir sicher, dass er es ist, weiß ich nicht, was ich sagen soll, wenn wir uns begegnen. Vielleicht wäre es besser, zuerst zu telefonieren oder eine E-Mail zu schicken, aber als ich draußen bin und mein Sandwich auf der Treppe vorm Hauptgebäude esse, entscheide ich, dass es nichts schaden kann, wenn ich mal schaue, wo sein Büro ist, selbst wenn ich nicht die Absicht habe zu klopfen, selbst wenn mich der Mut ganz und gar verlässt und ich ihn letzten Endes nie treffen werde.
    Seine schwere braune Holztür, bedeckt mit Postern über direkte Aktion und Antiglobalisierungsdemos, befindet sich in der Mitte eines langen Gangs mit hoher Decke. Im Moment reicht es zu wissen, wo es ist. Ich kann ihn immer noch aufsuchen, wenn ich den Mut dazu gefunden habe. Obwohl ich mir sage, dass ich ihn über Laura befragen will, hat mein Zögern, wie ich merke, genauso viel damit zu tun, woran er sich bei mir als Kind erinnern mag.
    Ich wende mich gerade zum Gehen, als sich die Tür öffnet. Er steht dort und schaut mich an, unverkennbar Lionel, obwohl seine Haare dünner und wilder als vor zwanzig Jahren sind. Ich spüre Erleichterung darüber, ihn zu sehen, und ein unerwartetes Glücksgefühl. Zum ersten Mal begreife ich, dass wir vom Alter her eigentlich gar nicht so weit auseinanderliegen – er muss nur ungefähr sechs Jahre älter sein, aber damals erschien er mir viel erwachsener.
    »Warten Sie auf jemanden?«, fragt er.
    »Lionel Jameson.«
    »Der Name steht an der Tür.« Er ist barscher, als ich ihn in Erinnerung habe, auch lauter, seine Stimme dröhnt den Gang entlang und hallt von der hohen Decke wider.
    »Ich bin Sam.«
    Er mustert mein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, sind Sie einer der Kandidaten für die Dozentenstelle? Die Vorstellungsgespräche finden unten im Saal statt.«
    »Ich bin Sam Leroux. Früher Sam Lawrence. Unter dem Namen muss ich dir damals bekannt gewesen sein. Laura Wald hat mich zu dir gebracht.« Ich sehe, wie sich sein Gesichtsausdruck ändert, die Falten auf der Stirn glätten, die Pupillen weiten.
    »Komm rein«, sagt er und reißt die Bürotür auf. »Leider habe ich nicht viel Zeit.«
    Lionels Büro ist voller Bücherkisten, die nie ausgepackt wurden. Es hat etwas antiquiertes, wie ein Warenhaus, von aller Welt vergessen, ausgenommen von seinem einsamen Aufseher. Ich überbewerte ihn. Er ist bloß ein vorzeitig alternder Akademiker, ein typischer Professor, blind für das Chaos oder zu überarbeitet, um sein eigenes Durcheinander zu ordnen. Die Regale sind mit Papierstößen und Ordnern vollgestopft und es sieht so aus, als wäre seit Monaten nichts abgestaubt worden.
    »Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht«, sagt er und forscht in meinem Gesicht. »Kein Kind mehr! Dir geht es doch gut, oder?«
    »Also kannst du dich an mich erinnern.«
    »Du hörst dich fast so amerikanisch an wie ich inzwischen. Sag nicht, dass du auch in Chicago gewesen bist?«
    »New York.«
    Er schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme über der Brust und lacht. Die Schubladen des Aktenschranks in der Zimmerecke sind herausgezogen und mit Büroklammern zusammengeheftete Aktenbündel und Hängeordner quellen daraus hervor. »Es gibt so vieles zu fragen«, sagt er und zerrt an seinen roten Haaren. »Aber dir geht es tatsächlich gut? Ich habe mir so große Sorgen gemacht, als wir dich zurückgelassen haben.« Es zuckt in seinem Gesicht, während er mit einer Büroklammer herumspielt, die einen Stoß Papiere zusammenhält. Ich beruhige ihn, sage ihm, dass es mir gut geht. Das war überhaupt nicht die von mir erwartete Reaktion. »Du musst auch Fragen an mich haben. Was ich dir erzählen kann –« Er bricht ab, schüttelt wieder den Kopf, als hätte er mir etwas sagen wollen, sich dann aber eines

Weitere Kostenlose Bücher