Absolution - Roman
war, in die Kanalisation zu spülen. Der Gestank störte den Jungen nicht so sehr. Er kannte ihn von früher und das hier war einfach noch etwas, das stank und aussah wie Dinge, die er zu vergessen versucht hatte. Bernard ging ins Bad und blieb dort lange, und als er herauskam, sah er noch grauer aus als sonst und seine Zähne waren noch gelber und er schlug den Jungen nicht einmal, er murmelte nur etwas und befahl ihm, ins Fahrerhaus zu klettern, weil es Zeit war, loszufahren, und sie eine lange Fahrt vor sich hatten.
Sie fuhren über die Ebene aus der Stadt hinaus und am Flughafen vorbei, bogen nach Osten ab, fuhren bergauf und über den Pass und dann durch die Obstgärten, wo die Lichter an Scheunen orangerot in der Dunkelheit leuchteten und Insekten in kleinen Explosionen aufflammten, wenn sie gegen die Elektrozäune flogen. Bernard hatte vergessen, Proviant mitzunehmen, und als der Junge sagte, dass er Hunger habe, meinte Bernard nur: »Wir machen am Morgen Rast.«
Aber sogar Bernard, der nur einmal am Tag aß, bekam schließlich Hunger und ungefähr um zehn bog er ab und sie gingen in eine Tankstelle, um Sandwiches zu essen. Bernard aß zwei und der Junge aß eins, obwohl er Hunger für zwei hatte. Er hatte gelernt, nicht um mehr zu bitten, als Bernard ihm gab. Seine Mutter hatte ihm das Buch vorgelesen und er wusste, was mit Waisen passierte, wenn sie mehr wollten.
SAM
Wegen Clares Abneigung der Presse und insbesondere Interviews gegenüber komme ich zu diesen Treffen und kenne nur die grundlegendsten Fakten ihres Lebens. Auf meine Anfrage hin lehnten alle Mitglieder ihrer Familie eine Zusammenarbeit ab, desgleichen ihre Freunde und früheren Kollegen. Einige wenige Personen – Wissenschaftler, mit denen sie nicht einer Meinung war, und andere Schriftsteller, deren Werk sie in Rezensionen oder Essays verrissen hatte – haben sich lautstark zu Wort gemeldet und mich mit Klatsch versorgt: Sie verhinderte die Berufung einer anerkannten Expertin für die Renaissancezeit, weil die Frau sowohl rechts als auch lesbisch war. Lesbische Lebensweise und konservative Politik seien unvereinbar, sagte Clare. Einmal tadelte sie einen Kollegen vor einem Hörsaal voller Studenten, weil er eine ihrer Meinung nach offenkundige Anspielung auf Petrarca in dem zur Diskussion stehenden Text nicht erkannt hatte.
Wie das bei erfolgreichen oder mächtigen Frauen stets der Fall ist, existieren Gerüchte über ihr Sexleben. Die meisten davon tat ich kurzerhand ab: In ihrer Studentenzeit war sie promisk; sie hatte mehrere Abtreibungen; sie besuchte während ihrer wilden Auslandsjahre in Paris regelmäßig Sexclubs; sie ließ sich ein Jahr lang in Westberlin von einem Mann aushalten; sie hatte eine Affäre mit einen sowjetischen Doppelagenten in London, verriet ihn an die Sowjets oder die Briten oder die Amerikaner oder an seine Frau, oder sie verriet ihn nicht, sondern wurde von ihm und seiner Frau für den KGB angeworben und diente als von Moskau bezahlte Agentin von den späten 1950er-Jahren bis 1989. Von dieser speziellen Geschichte gab es viele widersprüchliche Versionen. Selbst wenn solche Geschichten wahr sein sollten, interessieren sie mich nicht, wenn auch nur deswegen, weil sie für ihr Werk so wenig Bedeutung haben. Sie sagen mir nichts über das, was ich am dringendsten wissen möchte.
»Sie haben ein Kind.«
»Zwei«, faucht sie.
»Aber Ihre Tochter Laura –«
»Wenn Sie von mir erwarten, dass ich Ihnen die Szene ausmale – ich werde es nicht tun. Ich kann es nicht. Wie im Fall meiner Schwester finden Sie die Fakten in den Zeitungsberichten.«
»Etliche Jahre, nachdem sie vermutlich starb, veröffentlichten Sie Changed to Trees , einen historischen Roman über einen Pfarrer im georgianischen England, dessen junge Tochter während eines Familienpicknicks ertrinkt.«
»Eins möchte ich betonen – ich habe nie einen unanfechtbaren Beweis für den Tod meiner Tochter erhalten.« Sie spricht mit erstickter Stimme – nicht vor Traurigkeit, glaube ich, sondern eher vor etwas wie Zorn. Ich weiß nicht, wohin ich blicken oder was ich sagen soll.
»Sie glauben also, dass sie noch am Leben ist?«
»Zu glauben, dass sie noch am Leben ist, und nicht genau zu wissen, ob sie tot ist, sind zwei verschiedene Gemütszustände.«
»Könnten Sie das vielleicht erläutern?«
»Nein!« Sie schreit fast. Ich höre, wie sich im Haus irgendwo eine Tür öffnet – die Assistentin, die kommt oder geht. Ich blättere in meinen
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