Absturz
Gesicht wischen musste. Wie musste da erst die siebzigjährige Stirn des Vaters schwitzen! Das Nasenbein! Ich bin während der Vorstellung für das Publikum unsichtbar ganz hinten im Hochsitz auf dem Platz neben dem Tonmeister gesessen und habe sofort die Silhouette des aus dem Publikum ragenden Hinterkopfs des Vaters gesehen: Der Hinterkopf hat sich in einem fort vor und zurück und von rechts nach links und von links nach rechts bewegt. Ich habe anlässlich der Premiere meines Stückes überhaupt nichts von der Premiere meines Stückes, sondern zweieinhalb Stunden lang ausschließlich die Silhouette des Hinterkopfs des Vaters gesehen. Ich habe gesehen, wie der Vater sich den Kragen gelockert hat, wie er sich die Krawatte abgenommen hat, wie er sich das Sakko ausgezogen hat, wie die Hosenträger sichtbar geworden sind, wie er, unaufhörlich mit dem Kopf rudernd, seinem Hosensack ein Taschentuch entnommen und damit den Schweiß von der Stirn und von der Nase getupft hat. Wie lange noch, habe ich mich auf meinem Hochsitz gefragt, hält er diese Tortur aus? Der vom Stück des Sohnes gemarterte Hinterkopf des Vaters hat diese Qual ungefiltert nach hinten zum auf dem Hochsitz um das Leben des Vaters bangenden Sohn weitergeleitet.
Pausenlos habe ich mir gedacht: Dieser Kopf hat einen Weltkrieg, eine sozialistische Alleinregierung und die Beatles überstanden, den Niedergang der mittelständischen Wirtschaft und den Niedergang des Pfarrkirchenrats, Krebsoperationen, die Selbstmorde seiner Geschwister und den Grabsteinspruch des Hausprimarius. Aber dieses Stück übersteht er nicht! Jetzt und jetzt gibt der Kopf auf, dachte ich, jetzt und jetzt sinkt er auf seine Schultern: Es ist nur eine Frage der Zeit, eine Frage von Minuten oder Sekunden. Gleich ist es vorbei. Gleich habe ich meinen Vater auf dem Gewissen. Gleich bin ich der Mörder meines Vaters. Tatsächlich hat der Hinterkopf des Vaters während der zweieinhalb Stunden wiederholt zu wackeln aufgehört und ist auf die Schultern gesunken. Minutenlang hat der Hinterkopf dann nicht die geringste Bewegung ausgeführt und ist, wie ich genau gesehen habe, in der schlechten, stickigen Kellertheaterluft auf der linken Schulter gelegen. Minutenlang hat der Hinterkopf meines Vaters keine Anstalten gemacht, sich so wie alle anderen Hinterköpfe in eine aufrechte Position zu bringen, die es glaubhaft gemacht hätte, dass sich die Vorderseite des Kopfes, das Gesicht, dem Bühnengeschehen widmet. Es war ohnehin kein Bühnengeschehen, sondern nur eine Bühnengeschehensverweigerung zu sehen. Tatsächlich ist Papa nicht zusammengebrochen, sondern eingeschlafen, und alle paar Minuten hat der Ellbogen der Mutter den Hinterkopf des Vaters plötzlich hochschnellen lassen. Bis auf Weiteres, habe ich gedacht. Von Minute zu Minute habe ich mich immer weniger auf mein Drama und immer mehr auf das Hinterkopfdrama meines Vaters konzentriert, auf dieses grauenhafte Stück und seine blinden Motive. Pulvis es. Niemand im Saal hat die Uraufführung meines Stückes so sehen und erleben können, wie ich sie gesehen und erlebt habe. Niemand war dem Theatergeschehen so ausgeliefert wie ich. Niemanden hat mein qualvolles Drama so gequält, wie es mich gequält hat. Warum verderben mir Mama und Papa mein Verdorbenes? Warum sind sie nicht lieber zur Blauen Maus von Hugo Wiener zugunsten der Kriegsopfer vom Balkan gegangen, zur Blauen Maus , wo sie hingehören!
Immer wieder habe ich, den aus dem Publikum ragenden, wackelnden Hinterkopf des Vaters sehend, den Vater, wenn er nicht gerade eingenickt war, hüsteln, sich räuspern und röcheln hören. Unendliche zweieinhalb Stunden lang habe ich mich gefragt, wie lange hüstelt und röchelt Papa noch? Oder ich habe mich, wenn der Hinterkopf gerade leblos auf der Schulter lag, fragen müssen: Wird er jemals wieder hüsteln und sich räuspern und röcheln? Das erste Hüsteln, Räuspern und Röcheln des Vaters nach minutenlanger Stille war stets eine Erlösung und Erleichterung für mich auf meinem Hochsitz neben dem Tonmeister und dem Beleuchter. Das zweite Hüsteln, Räuspern und Röcheln war schon wieder eine Drohung. Das halte ich nicht aus!, dachte ich. Flucht!, dachte ich. Hinaus aus dem Kellertheater, vorbei am Landhausbuchhandlungsschaufenster, zurück zum anderen Ende der Stadt, zurück in meine Mansarde. Nichts hören! Nichts sehen! Nichts wissen! Hinein in die Badewanne, hinaus aus der Welt! Aber ich durfte nicht flüchten. Ich musste ja von
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