Absturz
murren ethisch säubern und lässt sich bei einem Gemetzel mit Waffengewalt zwingen, sich selber die Finger von der Hand zu fressen, wenn die Maler der Nachbarn Wiedergutmachungsaquarelle spenden! Eine der vielen grundsatztratschenden und sitzungssüchtigen Schriftstellervereinigungen hat mich unlängst – ohne dass ich ihr Mitglied wäre (niemand aus unserer einsamen Familie war jemals irgendwo irgendein Mitglied) – in einem Brief gebeten, eine Zeile für Jugoslawien zu schreiben. Das hat Jugoslawien gerade noch nötig gehabt! Mir ist aber nicht ein Wort eingefallen. Meine bessere Hälfte teilt mir in diesem Zusammenhang mit, dass sie, ohne mich lange zu fragen, in meinem und unserem Familiennamen hundert Schilling aus unserem Haushaltstopf auf ein Spendenkonto zugunsten der Kriegsopfer vom Balkan überwiesen hat. Hundert Schilling! Ja, wenn jeder so handelte! (Immanuel Kant) – aber wer liest schon Kant? Gut möglich, dass diese hundert Schilling genau der Bruchteil meines Honorars sind, den ich für die Szene bekommen habe, in der der liebe Gott zu beten anfängt. Ich sage das für den Fall, dass die Literaturwissenschaft jemals auf diesen Erlagschein stößt.
Meine bessere Hälfte meint, Spenden sei vielleicht kurios und absurd. Aber trotzdem müsse man an die Betroffenen denken, an das Elend, den Hunger und die Not. An die unschuldigen Frauen und Kinder, die Krüppel und die Greise. Irgendwer müsse irgendwann irgendwo anfangen. Ich bin meine schlechtere Hälfte und ich denke, alles hat überhaupt erst damit angefangen, dass irgendwer irgendwann irgendwo angefangen hat. Am besten und gütigsten wäre es, ganz insgesamt erst gar nicht anzufangen! Wir kommen auf die Welt und stehen vor unlösbaren Aufgaben. Wir sterben, und wir hinterlassen der Welt unlösbare Aufgaben. Summa summarum kann man sich nur noch in die Badewanne setzen.
Auf gar keinen Fall möchte ich mich im großen Sechsteiler um 20.15 als still vor sich hin leidender Betrachter der Blauen Maus von Hugo Wiener in einer Pischeldorfer Kulturscheune wiederfinden! Natürlich könnte ich das Fräulein Moser infolge ihres plumpen Annäherungsversuchs die nächsten paar Monate oder überhaupt bis Kriegsende meiden. Aber ich bin an ihre Stöckelschuhe so gewöhnt. Kühne Literaturberatungsgespräche und Buchverkäufe in Stöckelschuhen sind etwas Besonderes. Selbst in der Landhausbuchhandlung tragen alle Verkäuferinnen außer dem Fräulein Moser Filzpantoffel. Außerdem: Eine Eintrittskarte verpflichtet ja nicht zum Eintritt. Eine Eintrittskarte für die Blaue Maus zugunsten der Balkankriegsopfer zu erstehen im vollen Bewusstsein, sie verfallen zu lassen, hielte ich für ein sehr bezeichnendes Ende dieser Geschichte, und als allerletzten stelle ich mir den sehr schönen und im Leser lange nachklingenden Satz vor: Ich bin nicht hingegangen.
Am Vorabend der Premiere meines ersten Dramas habe ich nach der gelungenen Generalprobe im Gasthaus die Kartenfrau des Kellertheaters kennengelernt. Weil es mich gar nicht interessiert hat, wer bereits wann wo was mit welchem Erfolg gespielt hat, bin ich vom Schauspielertisch früh aufgestanden und zur Theke gewechselt, wo mir die Kartenfrau, die mich noch nicht kannte, nach dem dritten Glas Bier allmählich zu glauben anfing, dass ich hier der Autor war. Sie wünschte sich so sehr, einmal vom Dichter, für dessen Stück sie an der Abendkassa Eintrittskarten verkauft, dort persönlich begrüßt und beim Namen genannt und sogar geduzt zu werden, dass ich der Kellertheaterkartenfrau dieses moderne Märchen ganz einfach erfüllen musste und zur Premiere gegangen bin, obwohl ich das gar nicht wollte und lieber für alle unsichtbar zu Hause geblieben wäre. Auch Mama und Papa sind zur Premiere gekommen, obwohl ich das gar nicht wollte und es mir lieber gewesen wäre, sie wären so wie ich zu Hause geblieben. Aber sie sind in der zweiten Reihe gesessen und haben die mythische Ursprungslosigkeit des Genius auf eine harte Probe gestellt. Ein Genius hat vom Himmel oder aus den Wolken zu fallen oder aus dem Nebel zu tauchen, nicht aus Mama und Papa in Mama. Es gibt auf der ganzen Welt kein goldenes Künstlerdenkmal, das Papa und Mama integriert. Ein Genius hat unnahbar und unerklärlich zu sein, kryptogenetisch und nicht herleitbar.
Wie der Schopenhauervater will ein Vater seinen Sohn zunächst natürlich in der Wirtschaft unterbringen, auch wenn die völlige Unmöglichkeit dieser Verbindung schnell klar wird.
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