Abteil Nr. 6
im Arm. Der Mann und die junge Frau blieben vor dem Sarg stehen. Der Mann nahm den Hut ab und schlug das Kreuzzeichen. Da ging die Ladentür auf, und heraus kamen eine flachbrüstige alte Frau und vier Männer, die schwarzes Kreppband an den Ärmeln ihrer fadenscheinigen Mäntel befestigt hatten. Die Männer griffen nach den weißen Tragebändern, hoben den Sarg auf und trugen ihn in Richtung Stadtzentrum. Schwankend bewegte sich der Trauerzug auf der rutschigen Straße, die von einer Reihe dicht an dicht stehender, an orthodoxe Kreuze erinnernder Strommasten gesäumt wurde.
»Friede seinem geschundenen Herzen«, sagte der Mann.
Als der Begräbniszug hinter der zierlichen, mit blauem Mosaik dekorierten Moschee verschwand, wischte sich der Mann über die Stirn.
»Als junger Mann wurde ich beim Torfabbau auf Vordermann gebracht. Dort gab es einen gewissen Misjka, einen mit flacher Stirn und harter Faust. Ich freundete mich mit ihm an, falls man das Wort in dem Zusammenhang benutzen darf. Ich habe nie ein Wort zu ihm gesagt, aber wir streichelten abends dieselbe Katze … Dann starb Misjka eines Nachts. Jemand hatte ihm zwei Eisennägel in den Kopf geschlagen. Ich fragte den Vorarbeiter, ob ich Misjka auf seiner letzten Reise begleiten dürfe. Geht nicht, sagte der Vorarbeiter, die Vorschriften erlauben so etwas nicht. Also stand ich bloß da und sah zu, wie er fortgeschafft wurde. Getrocknete Spritzer von Scheiße verschönerten den Hintern des weißen Pferds, als es den Mistwagen zog. Der Wagen hatte eine Bretterkiste geladen, in der lag Misjka.«
Sie standen noch eine Weile still da, bevor sie das Haushaltsgeschäft betraten. Ein zerschlissenes, geblümtes Wachstuch bedeckte die kleine Theke. Darauf waren Teedosen, Cremetuben, dünne Nudeln, billige Parfüms und Gürtelschnallen drapiert. Gitter sicherten das niedrige Fenster. Eine Putzfrau mit roten Händen hantierte mit einem nassen, zerfetzten Besen, dass es spritzte.
»Raus! Seht ihr verbannten Hammel nicht, dass hier geputzt wird? Sofort raus!«
Gerade als sie sich umdrehten, um das Geschäft zu verlassen, kam die Verkäuferin aus dem Hinterzimmer. Ihre riesige Nase hatte schlimme Erfrierungen abbekommen.
»Ich höre!«
Der Mann räusperte sich. »Wir wollen niemanden stören, ganz ruhig.«
Die Verkäuferin warf einen Blick auf die Putzfrau und wedelte mit der Hand.
»Warwara Alexandrowna Pelewina, Sie können gehen. Der Boden ist gut so.«
»Meine kleine Ninka, könnte ich zwei Flaschen Pfefferwodka und einen Bund Zwiebeln haben?«, fragte der Mann.
»Ich bin nicht deine Ninka!«
»Pfefferwodka, mein goldener Butterwecken?«
»Gibt’s nicht.«
»Vielleicht gibt es ja doch … zum Beispiel Pfefferwodka.«
»Gibt’s nicht.«
»Und zwei Pilzpiroggen und eine Flasche Mineralwasser?«
Die Verkäuferin starrte den Mann überrascht an. Dann schmunzelte sie, schwenkte ihr üppiges Hinterteil und holte unter der Theke eine große Flasche klaren Schnaps, eine kleine Flasche süßen Bärenblutwein, als Notreserve bulgarischen Fusel und einen Bund Zwiebeln hervor.
Der Mann lachte, zog einige kleine Scheine und eine Handvoll Kopeken aus der Tasche und warf sie schwungvoll auf den kleinen Teller, schnappte sich die Flaschen und die Zwiebeln, sah die Verkäuferin lange an, leckte sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe und verließ mit hüpfendem Schritt und sogar leise vor sich hin pfeifend den Laden. Die junge Frau blieb zurück, trollte sich aber auch schnell, weil die Verkäuferin sie feindselig anstarrte.
Sie gingen zur Bushaltestelle. Der Wind wurde stärker, und vom Himmel wirbelte heftiger, herber Schnee herab. Er hatte in der Tundra Kräfte gesammelt und ließ die schwankenden Fichtenzweige gefrieren.
Irgendwann kam der Bus, der nach der Fäulnis des Alltags stank, und die Leute stiegen hastig ein. Am Steuer saß eine aufgedunsene, aus dem Mund nach Zwiebeln riechende Frau mittleren Alters, die sich in einen Wintermantel mit Pelzkragen gezwängt hatte. Die Kälte war über den Bus hinweggegangen und hatte alle Fenster mit Reif überzogen. Mehrere Wolkenschichten jagten über den dunklen Himmel, sie schnitten sich mal unmittelbar über dem Wald, mal in großer Höhe.
Am Bahnhofsplatz stiegen sie aus. Der Wind jagte den Fetzen eines erbärmlichen schwarzen Sacks um das Lenin-Denkmal. Müde trotteten der Mann und die junge Frau zu der Eisdiele an einer Ecke des Bahnhofsgebäudes. An der Tür war ein Schild befestigt:
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