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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Hoffnung. Als Iwan der Schreckliche achtzig wurde, beschaffte man ihm eine sechzehnjährige Ehefrau.«
    Die junge Frau schmunzelte zum Zeichen einer Art trockener Versöhnung und ging ins Abteil. Sie grub das Fläschchen mit dem Nagellackentferner aus dem Koffer, schüttete den Inhalt ins Wodkaglas des Mannes und warf sich aufs Bett. Sie mochte das Gagarinlächeln des Mannes. Damit schlief sie ein, hungrig, mit allen Kleidern am Leib.
    Mit wehmütigem Gesichtsausdruck schaute der Mann auf den trüben Fluss, an dessen Ufern Sägewerke errichtet worden waren. Um sie herum breitete sich, so weit das Auge reichte, Menschenleere aus. Unter der Eisdecke brauste und wirbelte der Fluss. In den frühen Morgenstunden fuhr die junge Frau aus dem Schlaf hoch und trat gegen die Abteiltür, sodass diese sich ein Stück öffnete. Der Mann kam sofort herein, trank sein Wodkaglas leer und legte sich, ohne ein Wort zu sagen, schlafen.

Rotbuntes Licht drang grell durch das Abteilfenster und spaltete den Raum. Das Bett des Mannes lag im Schatten, das der jungen Frau im Licht. Der Mann machte sich an seiner Nase zu schaffen. Von schädlichen Nebenwirkungen des Nagellackentferners war keine Spur zu sehen. Am Gangfenster pickten zwei struppige Spatzen.
    »Arisa hat geschrien, dass die Lokomotive ausruhen will, also lässt man sie ausruhen. Was meinst du, mein Mädchen, wollen wir losgehen und Bekanntschaft mit den Wodkaläden der Stadt Omsk schließen?«, fragte der Mann mit feistem Selbstbewusstsein. »Aber nicht mit leerem Magen. Zuerst ein bisschen was zu beißen und dann auf die Straße. Eile tötet, denk dran.«
    Auf dem Bahnsteig griff die Nebelkälte derart nach dem Atem des Mannes und der jungen Frau, dass sie lange auf der Stelle stehen bleiben mussten. Zwei hungrige Hunde mit flinken Beinen kläfften. Das Bahnhofsgelände wurde von Arbeitsgeräuschen und vom Lärm der Reisenden erfüllt, vom Wimmern der Lokomotiven, vom Rumpeln der Güterzüge, von schepperndem Eisen, von Flüchen, Gegröle und dem haltlosen Lachen alter Frauen. Inmitten des Menschengebräus wedelte eine Frau mit riesigen Fäustlingen. Sie verkaufte dicken Apfelsaft in großen grünen Flaschen. Die junge Frau dachte an den Winter zuvor. Damals war der Krieg in Afghanistan heftiger geworden, und anstatt auf die Lebensmittelproduktion hatte sich der Sowjetstaat auf die Produktion von Waffen konzentriert, und sie hatte in den Regalen der Moskauer Geschäfte nur Dosen mit Milchpulver, Fischkonserven und vereinzelte Mayonnaisegläser gefunden. Überall hatte es nur Probleme gegeben: Zahnpasta-, Seifen-, Wurst-, Butter-, Fleisch- und das ewige Papierproblem. Sogar ein Puppenproblem gab es. Als sie über Neujahr Urlaub in Riga machte, entdeckte sie in einem abgelegenen Geschäft Tomatensaft und Marmelade in Dreilitergläsern und schleppte sie halb tot nach Moskau. Mit diesen Gläsern vergnügten sie und Mitka sich bis März. Sie tauschten die Lebensmittel gegen Ballett- und Konzertkarten, gegen Sekt und wer weiß was alles ein.
    Vor dem Bahnhof stiegen sie in einen Bus, auf dessen Armaturenbrett ein kleiner Papagei krächzte. Der Bus seufzte, brüllte auf und zockelte in Schrittgeschwindigkeit dem Stadtzentrum entgegen. Der Mann nickte ein, die junge Frau kratzte mit den Fingernägeln ein kleines Loch ins Eis am Fenster. Sie beobachtete einen verwirrten Trupp Kraniche, der majestätisch am Ufer des Irtysch entlangflog und hinter den hohen Plattenbauten mit den grünen Balkonen verschwand. Die Fabrikschornsteine sahen wie Minarette aus.
    Der Bus wankte und schwankte und war nah daran umzukippen, als er einer Gruppe Ölarbeiter auswich, die über die Straße ging. Weit hinter der Stadt breitete sich als dunkler Streifen uferloser Wald aus alten Kiefern aus.
    Mit einem Heulen hielt der Bus vor den Überresten des Tara-Tors an, der Mann wurde wach, und sie stiegen rasch aus. Neben dem Tor stand ein flaches Backsteingebäude mit der Aufschrift »Univermag«. An der Stirnwand des Ladens war mit rostigen, verbogenen Nägeln ein Lautsprecher befestigt worden. Er hing traurig im Winterwind, um ihn herum schwebten Fetzen der Pastorale aus der Oper Pique Dame .
    Vor dem Eingang stand ein schmuckloser, mit roter Seide ausgeschlagener Sarg aus Kiefernholz. Die Ränder waren mit schwarzer Spitze verziert, auf dem Deckel lag ein Strauß weißer und zitronengelber Nelken. Auf der schneebedeckten Bank unter dem Ladenfenster lag ein betrunken eingeschlafener Mann mit eine Ziehharmonika

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