Abteil Nr. 6
rannten gleich hin. Am Ufer hatte sich ein grölender Kreis gebildet. Ich versuchte mich vorzudrängen, um zu sehen, was da eigentlich vorging, aber die älteren Jungen stießen mich weg. Dann kam einer der Leiter, so ein Schrank. Er bahnte sich einen Weg in die Mitte des Geschehens, und bei der Gelegenheit konnte ich einen Blick in den Ring werfen. Und was sah ich da? Dort lag Jura, ganz still, mit nur noch einem Bein. Er zitterte nur so, und es drang kein Laut aus seinem Mund. Der Leiter befahl uns, auseinanderzugehen. Jemand rannte los, um den Lagerlastwagen zu holen, und ein anderer Leiter brachte Verbandszeug. Der Schrank flößte Jura Wodka ein, und mit Wodka spülte er auch den Beinstumpf ab. Dann fuhr der Lastwagen vor und brachte ihn weg. Am nächsten Tag sagte niemand ein Wort über den Vorfall. Die Jungen hatten auf dem Grund des Sees eine Mine entdeckt und ans Ufer geworfen, wo Jura, der Spucknapf, gerade eine Sandburg baute. Danke, Genosse Stalin, für eine glückliche Kindheit!«
Fahles Licht fiel vom Himmel. Die junge Frau beschloss, in die Stadt zu gehen. Der Mann zog es vor, im Zug zu bleiben und sich auszuruhen. Auch er wollte allein sein.
Die junge Frau hörte die Lautlosigkeit der Vögel, die Geräusche des schmelzenden Schnees auf den Dächern, die plätschernden Regenrinnen, die knallenden Wassertropfen, die kleinen Bäche, die zwischen den Häusern flossen, und das traurige Piepsen eines Sperlings auf dem schneebedeckten Ast einer Eberesche. An der Traufe eines windschiefen Wohnblocks wuchsen zwei Meter lange Eiszapfen. Wenige Autos parkten an den Straßenrändern, entweder von weichem Schnee bedeckt oder mit getrübter Oberfläche nach einer Fahrt durch die strenge Kälte. An einer Bushaltestelle saß eine Arbeiterfrau mit einem Stapel Brotlaiber auf dem Schoß.
Am Nachmittag ging die junge Frau in eine Cocktailbar namens Großer Oktober. Der Raum war voller Studenten, die kamen und gingen. Kältedunst drang zur Tür herein. Die junge Frau kostete den Milchcocktail, den Premierminister Kossygin einst aus dem Baltikum mitgebracht und in der ganzen Sowjetunion lanciert hatte. Er war kalt und süß. Sie starrte auf das rostige Vorhängeschloss an der Kühlschranktür und dachte an Moskau, an die feuchten Hinterhöfe dort, an die moorig riechenden Wohnungen, an die Treppenhauseingänge voller verschiedener Klingeln. Sie hatte gleich nach dem Abitur Archäologie an der Universität Helsinki studiert und sich schon nach wenigen Semestern mit ihren Freundinnen Maria und Anna für Graduiertenstudienplätze in Moskau beworben. Eine Menge Papierkram hatte dafür erledigt werden müssen. Maria und Anna waren in Moskau ins Wohnheim des Konservatoriums gezogen, sie selbst ins Studentenhaus des Teknikums, wo sie sich mit einer dänischen Geologiestudentin, die Lene hieß, ein kleines, stickiges Zimmer geteilt hatte.
Ihr ganzes Studium über hatte sie davon geträumt, nach Sibirien zu reisen, in die Fußstapfen von Pälsi, Ramstedt und Donner zu treten, all die Orte aufzusuchen, an denen jene berühmten Forscher gewesen waren. Als ihre Examensarbeit fast fertig war, füllte sie Anträge und Formulare aus und sammelte in Moskau und Helsinki die maßgeblichen Empfehlungsschreiben. Aber die ganze Mühe erwies sich als vergebens, denn die betreffenden Gebiete waren für Ausländer gesperrt. Schließlich schlug Mitka eine gemeinsame Reise in die Mongolei vor – mit dem Zug, der durch Sibirien kroch. Zuerst lehnte sie ab, aber später fasste sie doch Begeisterung dafür, nachdem sie von den Felsinschriften in der Nähe von Ulan-Bator gelesen hatte, die Ramstedt entdeckt und die Pälsi beschrieben hatte.
Dann fügten sich alle Teilchen zu einem schiefen Bild.
Das kühle Licht des Spätnachmittags fiel auf die verschneiten Straßen und die Tore vor den flachen, zur Zeit Katharinas der Großen erbauten Häusern. Eines der alten, schönen Häuser war das Hotel. Im Hof stand ein sorgfältig aufgestapelter Holzstoß. Der Zaun war eingeknickt, Eisblumen überzogen die Fenster. Die junge Frau setzte sich in die Eingangshalle, in deren Mitte ein imposantes Papierblumenarrangement drapiert worden war. Die Atmosphäre hatte etwas Oblomowhaftes, es fiel noch immer der Schnee vom letzten Winter. Rechts vom Rezeptionsschalter hing eine Fotografie mit Trauerrand. Sie war von Hand koloriert und zeigte eine robuste Frau, die zwei Orden an der Brust trug.
Die junge Frau wartete mindestens eine Stunde, bis eine junge
Weitere Kostenlose Bücher