Abteil Nr. 6
Gang abgewischt. Der Mann und die junge Frau bestiegen den Waggon erst, als Arisa und Sonetschka die Teppiche zurückgelegt hatten. Im Abteil breiteten sie ihre Einkäufe auf dem Tisch aus und richteten gemeinsam das Frühstück her.
Der Mann hantierte mit dem Samowar, rückte ihn unnötig vor und zurück, öffnete immer wieder den Deckel und überprüfte viele Male, ob der Stecker auch gut in der Steckdose saß. Hinter dem Bahnhofsgelände rauchte die Sonne, das ganze Universum rauschte. Der Mann kochte Wasser, gab eine tüchtige Portion der gerade erstandenen großen, ganzen Teeblätter in die Kanne und wartete. Nach zehn Minuten hatten sich die Blätter am Boden der Kanne abgesetzt. Er goss sich den nahezu schwarzen Tee in sein Glas, stellte einen ganzen Zuckerklumpen aufrecht hinein wie einen Eisberg und kostete mit drei kleinen Schlucken. Dann reichte er das Glas an die junge Frau weiter. Sie probierte den Tee. Er schmeckte sanft und kräftig. Der Mann wollte das Glas zurückhaben, schlürfte drei Mal daraus und gab es erneut der jungen Frau.
»Mein Großvater kam im Jahr ’33 ins Erziehungslager. Er war durch und durch ein Dieb und bewahrte das Geheimnis des siebten Siegels bis zu seinem Tod. Auch mein Vater führte ein Vagabundenleben und besaß nichts als eine schlechte Handschrift. Er lebte in einer Welt, wo die Kneipe die Kirche war, das Zwangsarbeitslager ein Kloster und das Trinken die höchste Stufe des Bemühens. Er stolperte über einen ehrlichen Raubmord, Lucifers Netz zog sich um ihn herum zu, und schließlich landete er im Keller des KGB, von wo aus man ihn im Jahr ’35 in ein Drei-Sterne-Zwangsarbeitslager steckte, im selben Jahr, in dem Stalin verkündete, das Leben des Sowjetmenschen sei fröhlicher geworden. In ein Drei-Sterne-Lager, also in ein gutes Lager. Fünfundvierzig Jahre brummten sie ihm auf. Damals konnte das Leben im Arbeitslager für manchen Armen und Hungrigen erträglicher und sicherer sein als das Leben in einer großen Stadt. Auch der Alte erschrak über das Urteil nicht, denn er war Schlimmeres gewohnt. Im Jahr ’42 saß Stalin in der Scheiße. Die Nazis standen dreißig Kilometer vor dem Roten Platz, und ihre Aufklärungsflugzeuge flogen bereits über Stalingrad. Da beschloss der Generalissimus in seiner Not, alle Kriminellen in den Arbeitslagern zu befreien, sofern sie schworen, an die Front zu gehen, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wenn du an die Front gehst, wirst du freigesprochen, und nach dem Krieg bist du ein freier Mann. Mein Alter schnappte nach dem Köder und kam raus, so wie Zehntausende andere auch. All die Mörder, Diebe und sonstigen Strolche wurden in Waggons gepfercht und an die Front gekarrt. Unterwegs, an der ersten Etappe, stieß der Alte auf meine jungfäuliche Mutter, die es furchtbar eilig hatte, schwanger zu werden, bevor auch noch der letzte Mann im Krieg verschwand, und weil das Angebot nun mal stand, bumste er sie. Mein Alter überlebte den Krieg, aber nach dem Krieg wurden alle Kriminellen, die an der Front am Leben geblieben waren, direkt wieder in dieselben Lager geworfen, aus denen sie gekommen waren. Der einzige Unterschied für meinen Vater bestand darin, dass sein Lager jetzt voller Litauer war. Dort ist er dann gestorben, an Durchfallfieber.«
Der Mann leckte sich die trockenen Lippen und sah die junge Frau nachsichtig an.
»Dir kann man schön Geschichten erzählen, mein Mädchen, weil du überhaupt nichts verstehst. Meine Mutter brachte einen neuen Mann für sich auf die Welt.«
Er stand auf und machte routiniert dreiundfünfzig Liegestütze. Seine Oberschenkel waren muskulös, und er hatte ein kräftiges Gesäß.
»Das Leben diktiert jedem von uns sein strenges Gesetz. Das wirst du irgendwann verstehen oder eben nicht. Ich war im Jahr ’48 im Pionierlager, direkt nach dem Krieg. Die Jungen aus der sechsten Abteilung durften im klaren Wasser des Komsomol-Sees schwimmen. Dieser See war insofern außergewöhnlich, als der weiche Sandboden abrupt abbrach, und die kleinen Jungen fanden es natürlich lustig, die Arschlöcher, die nicht schwimmen konnten, in die kalte Tiefe zu stoßen. Wir Pionierpimpfe mussten in Teich Nr. 6 schwimmen. Das war ein kleines, schlammiges Pionierloch, dessen Wasser trüb und viel zu warm war. Eines Tages, als wir dort planschten, hörte man einen fürchterlichen Knall. Er kam ganz aus der Nähe. Jemand rief um Hilfe, und wir sahen, dass am Seeufer schwer was los war. Wir waren natürlich neugierig und
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