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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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nicht, das weiß ich.«
    Kaum hatte er die Kognakflasche aus dem Speisewagen geleert, röchelte er schwer, deutete auf die Flasche ohne Etikett und fuhr mit abgewetzter Stimme fort:
    »Mir platzt der Kopf. Wahrscheinlich muss ich die noch wegtrinken.«
    Die junge Frau verzog sich auf den Gang. Der Zug ratterte in gleichmäßigem Takt voran. Auf dem Dach eines schiefen Hauses neben der Strecke stand ein alter Mann und schippte Schnee. Hinter dem Haus schlängelte sich ein rostiger Bach durch die weiße Schneefläche und verschwand im Dunkel eines ermatteten alten Waldes. Wenig später schluckte massiver Wald alles andere. Am Ende des Waggons riss jemand wütend an einer Harmonika. Das Poltern des Zuges und die scharfen slawischen Klänge des Akkordeons ließen die junge Frau in befreienden Halbschlummer sinken. Sie stellte sich die winterliche Landschaft sommerlich vor, sah eine zitronengelbe Wiese vor sich, die warmen, bläulichen Umrisse des Waldes, vom Sonnenuntergang rot gefärbte Birken, dunkle, kühle Schatten auf den Feldern und eine kleine gelockte Wolke.
    Schließlich ging sie widerwillig zur Abteiltür und machte sie vorsichtig auf. Der Mann lag wie ein Aas in seinem Bett.
    Die junge Frau schlich sich zu ihrem Bett und setzte sich auf den Rand. Es war feucht im Abteil, der ständig ziehende Tee sorgte für Dunst und schwere Luft. Eine dicke Speichelspur rann dem Mann aus dem Mundwinkel. Sein Gesichtsausdruck war gelassen, als hätte er allem Ungemach und aller Trauer, die ihm in seinem Leben begegnet waren, verziehen. Die junge Frau zog sich aus und legte sich ins lieb gewonnene Bett. Sie dachte an Mitka, wie er mit dem Bleistiftmesser einen Apfel teilte und ihr die eine Hälfte gab. Mitka, der nach Haushaltsseife und Gras roch. Mitka, der, obwohl lethargisch und faul, ein guter Schwimmer und der Schachgroßmeister seiner Schule war.
    Und so verlor sich der Tag in der Abenddämmerung, durch die Dunkelheit hindurch gefror die Nacht zu einem blauen Tagesanbruch vor dem Fenster. Der gelbe Mond kehrte der feurigen Sonne den letzten Stern aus dem Weg. Ein neuer Morgen brach an, langsam wurde ganz Sibirien hell. Der Mann machte in Trainingshose und weißem Unterhemd Liegestütze zwischen den Betten, Schweiß auf der Stirn, verschlafene Augen, trockener, übel riechender Mund, im Abteil der klebrige Gestank des Schlafs, das Fenster, das nicht atmete, stille Gläser auf dem Tisch, schweigende Krümel auf dem Boden. Ein neuer Tag brach an, gelbe, bereifte Birken, Kiefernwälder, in deren Schutz sich Tiere flüchteten, frischer Schnee, der in den Ebenen Wellen schlug. Weiße, flatternde Unterhosen, schlaffe Penisse, Mischi, Maschi, Muschi, weite Blumennachthemden aus Flanell, Wollsocken, Schals, Zahnbürsten mit in alle Richtungen abstehenden Borsten, die Nacht saust durch die Dunkelheit und wird zum Morgengrauen, schwere Schlange zum allerheiligsten Klo, Trockenwäsche im Pissegestank, Husten, Scham, peinlich berührte Mienen, dampfende Teegläser, große Platten kubanischen Zuckers, papierleichte Löffel, Schwarzbrot, Viola-Käse, geschnittene Tomaten und Zwiebeln, der Torso eines gebratenen Hähnchens, ein Glas Meerrettich, hart gekochte Eier, Salzgurken, ein Glas Mayonnaise, Fischkonserven.
    Die Nacht verfliegt zum neuen Tag. Der Schnee klettert an den Baumstämmen empor, die Stille der Wipfel erlischt, ein Greifvogel sitzt auf einer orangefarbenen Wolke und schaut auf den Zug, der sich ringelt wie ein Wurm.

Zuerst verschlangen sich die Schienen zu Strängen, der Zug wurde heftig hin und her geworfen, dann folgte ein quietschendes Bremsen, als würde Glas über eine Metallplatte gezogen, und schließlich hielt der Zug am Bahnhof der sibirischen Hauptstadt Irkutsk: zwei Tage Aufenthalt.
    Das ockerfarbene Bahnhofsgebäude mit den weißen Ecken stand düster an seinem alten Platz. Davor betrachtete der Bahnhofsvorsteher regungslos den gerade eingefahrenen Zug. Die junge Frau drehte sich auf die andere Seite, und schon stürzten sich ungeordnete Erinnerungen und Eindrücke auf sie, Menschen, die sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als sie aufwachte, war sie schweißnass.
    Der Mann sah sie mitleidvoll an, und das tat ihr gut.
    »Die Seele des anderen ist ein dunkler Abgrund«, sagte er leise. »Aber lassen wir die Seele in Ruhe. Jetzt gehen wir in den Wald. In den Essenswald!«
    Die junge Frau zog sich schnell an, der Mann langsam und gewissermaßen würdevoll. Er schlüpfte in eine alte, grünliche

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