Abteil Nr. 6
Rezeptionistin mit Bisammütze und großzügig geschminkten Lippen aus dem Hinterzimmer gesegelt kam. Eine erlesen bittere Eau-de-Cologne-Wolke umwehte sie. Sie schaute die junge Frau nicht an, sondern ging hinter dem Schalter hin und her, als hätte sie es eilig. Schließlich gelang es der jungen Frau, ihr Hotelvoucher loszuwerden, worauf die Rezeptionistin wieder für eine oder zwei Stunden im Hinterzimmer verschwand.
Das Zimmer, das die junge Frau am Ende bekam, lag im zweiten Stock. Der Gang war mit kaputten Möbeln und Holzkisten vollgestopft, und inmitten des ganzen Sperrmülls hatte man eine schöne Couchgarnitur aus Rotholz aufgebaut. An der Wand hing ein Druck von Repins Wolgatreidlern. Die alte Etagenaufsicht saß hinter ihrem kleinen Tisch und schlief.
Das Zimmer war eng und viel zu warm. Die junge Frau öffnete das kleine Belüftungsfenster, worauf Frühjahrswind hereinschwappte, die hellgelben Vorhänge ergriff und sie zum Flattern brachte. Der Blick ging auf eine Grünanlage.
Das Bett war mit gestärkten, weißen, sauberen Laken bezogen, in einer Ecke der Toilette stand eine Wanzenspritze. Die junge Frau zog sich aus und schlüpfte ins frisch gemachte Bett. Sie betrachtete den Plastiksatelliten, der zwischen den Vorhängen schaukelte, und schlief im schweren Brausen des Gasboilers ein.
Nach dem Aufwachen rückte sie das Bett ans Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und legte sich wieder hin. Durch die Grünanlange unten führte ein roter Sandweg. Etwas weiter weg befand sich ein kleiner zugefrorener Teich mit klarem, glattem Eis. Es lag kein Schnee darauf, der Aprilwind hatte ihn fortgeblasen. Ein Bronzefisch schwamm erstarrt mitten im Teich, eventuell spuckte er im Sommer Wasser. Zwischen den Ästen der Ahornbäume wisperten grell die Seidenschwänze, sie wippten mit ihren gelb gerandeten Schwanzfedern, wedelten mit ihren Federschöpfen, flatterten zwischendurch hinter Trolleys und Straßenbahnen her in die Stadt. Zeitweise flogen sie hoch am Himmel und beobachteten von dort das städtische Leben, um sich dann auf den Ästen der Ahornbäume und den Rückenlehnen der Parkbänke, denen der Regen schwer zugesetzt hatte, niederzulassen.
Nach der Mittagszeit erklang aus dem Lautsprecher, der mit Draht an einer Säule des Parktors aufgehängt worden war, Claude Debussys Orchsterwerk Nachmittag eines Fauns . Wenig später kamen alte Männer in den Park, um dort mit Dominosteinen zu spielen. Dann erschienen die alten Frauen. Jede breitete ein Tuch auf einer Bank aus und ließ sich darauf nieder.
Die junge Frau aß im Speisesaal des Hotels zu Mittag: Borschtsch, saure Sahne und Schwarzbrot. Sie betrachtete die traubenförmige Deckenleuchte aus hundert Lampen, die sämtlichen Normen des Kunsthandwerks trotzte. Eine Bedienung mit großem Mund und kleinen Augen fragte sie, ob sie daran interessiert sei, Geld zu tauschen oder Westprodukte zu verkaufen.
Nach dem Essen ging sie bei mildem Wetter in den Siegespark und erschrak von dem metallischen Lärm der Straßenbahn, die jenseits des Heckenzauns vorbeischlingerte. Dann tauchte eine schwarze Ratte neben ihr auf. Sie war anscheinend krank, denn sie fürchtete sich nicht vor Menschen. Als die junge Frau stehen blieb, blieb auch die Ratte stehen. Die junge Frau fühlte sich einsam.
Sie dachte kurz an Irinas Ohrringe, an ihren außergewöhnlich geschnittenen Rock, an die Augen, bei deren Blick man sich nie sicher sein konnte. Aber es war leicht, bei ihr zu sein. Sogar die Stille wog neben ihr nicht schwer. Irina akzeptierte die junge Frau aus Finnland und ließ sie in ihre Familie ein, und nachdem man Mitka in der Klinik eingesperrt hatte, verbrachte die junge Frau viel Zeit mit Irina.
Irina hatte sie zu Ausflügen mitgenommen: in die Klosterstadt Sagorsk, deren unbändiges fünfzehnstimmiges Glockengeläut noch eine Woche später im Kopf widerhallte, zur Datscha Pasternaks in Peredelkino, wo im großen Garten zerbrochene Schalen von gefärbten Hühnereiern gelegen hatten, auf die Veranda von Konstantin Simonow, zum Grab von Arseni Tarkowski, wo sie Kürbiskerne gegessen hatten, und zum Friedhof Waganskoje, um das Blumenmeer auf dem Grabhügel von Wladimir Wyssozki anzuschauen. Irina hatte ihr Gedichte von Marina Zwetajewa und Ossip Mandelstam vorgelesen und sie dafür begeistert, Turgenjew, Lermontow, Bunin, Leskow, Platonow, Ilf und Petrow sowie Trifonow zu lesen.
Allmählich lernten sie sich besser kennen und verliebten sich ineinander.
Die junge Frau
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