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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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bückte sich, um die Ratte zu betrachten. Sie war tot, ihr Geist hatte den kranken Leib verlassen. Die junge Frau spürte, dass Irina an sie dachte.
    Sie bog in einen Weg ein, der in einen schwarzen, vom dunstigen Nebel bereiften Hain führte. In dessen Tiefe fand sie eine Puschkin-Statue, deren Oberfläche an Seetang denken ließ und zu deren Füßen eine Handvoll Schrothülsen zwischen den Scherben einer Wodkaflasche lag.
    Sie streifte weiter umher und gelangte in den offenen Teil des Parks, wo sich der Nebel gelichtet hatte und die Luft klar war. Hier erklang das Klavier von Rachmaninow, die alten Männer ließen die Dominosteine klicken, die alten Frauen tuschelten auf den Bänken. Leichtfüßiges Tauwetter schlich sich in den Park und wuchs sich allmählich zu einem warmen Frühjahrstag aus. Der Ostwind blies die Wolken eilends nach Westen. Irgendwo in der Ferne krähten Hähne, die ihr Zeitgefühl verloren hatten. Der Schnee, der noch immer überall lag, schmolz, worauf sich kleine Rinnsale bildeten. Die junge Frau fand eine freie Bank. Dort schlief sie in der fast schon heiß glühenden Sonnenwärme ein und schreckte erst auf, als ein gewaltiges Brausen tief in ihren Schlaf drang: Vom Rand des Parks her näherte sich eine braune Wasserlawine. Die alten Männer und Frauen waren weg, aber die Klaviermusik lief noch immer. Auf dem Parkweg kam der jungen Frau ein verkrüppeltes Pferd entgegen. Als sie an ihm vorbeirannte, blieb es stehen.
    Sie eilte zum Hotel und dort direkt in den zweiten Stock hinauf. Vom Fenster ihres Zimmers aus sah sie zu, wie das Wasser in irrsinnigem Tempo anschwoll und bald schon die Hälfte der Grünanlage nebenan überflutet hatte.
    Sie lief zur Rezeption hinunter und klopfte hart auf den Schalter. Aus den entferntesten Winkeln des Hinterzimmers tauchte die Rezeptionistin mit der Pelzmütze auf. Die junge Frau fragte sie, warum das Wasser plötzlich so stark stieg. Die Rezeptionisten erklärte, in der Nacht sei es schlagartig wärmer geworden, worauf sich das Eis des Angara-Stroms in Bewegung gesetzt habe. Aber das sei völlig normal, bis zum nächsten Morgen oder spätestens nächste Woche werde das Wasser wieder sinken …
    Verwirrt, aber auch erleichtert stand die junge Frau in der Hotelhalle und hörte, wie sich die Rezeptionistin im Hinterzimmer mit jemandem unterhielt.
    »Pawel Iwanowitsch, also der Bezirksinspektor der Kulturverwaltung.«
    »Diese vierzigjährige Ruine?«
    »Genau.«
    »Die Kanaille, die vor jedem Frühstück drei Esslöffel Dillwasser zu sich nimmt?«
    »Genau. Der hat Zoja erzählt, die es wiederum mir erzählt hat, dass …«
    Am Nachmittag war das Wasser komplett aus der Grünanlage verschwunden und hatte den ganzen sauberen Schnee mitgenommen. Übrig geblieben waren nur schmutziges Eis und dampfende, nasse Erde.
    Der Abend kam. Eine karminrote Straßenbahn schnitt den Rand des Boulevards, die schwarzen Bäume in der Grünanlage starrten die junge Frau düster an, aber sie merkte es nicht. Sie schaute weiter nach oben, zu den Sternen, die wie Eiswürfel am grünen Himmel klimperten, und auf den Mond, der eisiges Licht verströmte. Entlang der Eisstraßen duckten sich die Wohnblocks in der Kälte. Nach und nach sprangen sirrend die Straßenlaternen an. Lange gaben sie nur flackerndes, bläuliches Licht von sich, bis sie endlich purpurrot wurden.
    Sie schaltete den Schwarzweißfernseher auf dem Couchtisch in der Ecke ein. Darin wurde Reklame für die Sowjetunion gemacht.
    Die junge Frau dachte an Mitka und bekam Mitleid. Und sie dachte daran, was wäre, wenn ihn die Ruhe und die therapeutischen Anwendungen auf der Krim heilten. Was sollte sie dann tun? Und was sollte Irina tun? All das beunruhigte sie so sehr, dass sie dazu überging, sich mit Erinnerungen zu trösten: Wie sie und Mitka Schallplatten auf dem niedlichen giftgrünen Plattenspieler gehört, Tee und Sekt getrunken, Tausende Male unterschiedliche Brettspiele gespielt, gelacht und vor Freude gejauchzt und sich hin und her gewälzt hatten. Sie hatten gewusst, wie man das Leben genoss, aber dann war der Abend in die Nacht übergegangen, der Sommer in den Herbst, und Mitka war in die Irrenanstalt gekommen.
    Vor dem großen Fenster des Hotelfoyers sah man die Regenrinne, von der eine Reihe Eiszapfenschwerter herabhing, bereit, dem nächstbesten Passanten den Kopf zu durchtrennen. Auf einem Lichtmast, der helles gelbes Licht ausspuckte, schlief eine schwarze Katze mit langem Fell. Die junge Frau sagte zur

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