Abteil Nr. 6
Anzugjacke, knöpfte sie fest zu und kämmte sich die Haare dandyhaft nach hinten. Zum Schluss holte er die Schuhe unter dem Bett hervor. Es waren eine Art pelzgefütterte, robuste Springerstiefel mit gekappten Schäften und spitzen Absätzen.
Auf dem verschneiten Bahnsteig erwarteten sie frühjahrshaft milder Frost, lautlose Schneeflocken und ein Hundegreis, der mit dem Schwanz wedelte und einen schweren Knochen im Maul trug.
Die Bahnhofshalle war warm, die Luft darin trocken. In den Ecken trieben sich melancholische Reisende herum, auf den Holzbänken saßen Leute in schweren Winterkleidern, das leise Stimmengewirr der Reisenden drang herüber. An einem Ende der Halle befand sich eine Cafeteria, wo durch ein rundes Fenster tropfenweise winterliches Licht in die vom Samowar mit Dampf erfüllte Luft eindrang.
Durch eine niedrige Seitentür traten sie ins Freie. Vor der Gebäudemauer fanden sie die Händler mitten im Schlamm. Mit einem Winken grüßte der Mann die alten Frauen, steuerte aber auf einen betagten Mann zu, der eine Mütze ohne Schild trug. Sein Verkaufstisch war voller getrockneter Pilze. Der Mann unterhielt sich eine Weile mit dem Alten und reichte ihm schließlich ein in China gefertigtes Ringschlüsselset. Der Alte untersuchte die Schraubenschlüssel lange, bevor er unter seinem Tisch ein paar geräucherte Omul-Fische und eine Kiste mit dem gleichen Baikal-Omul, aber gegrillt, hervorholte.
Wenig später standen der Mann und die junge Frau vor dem Verkaufstisch einer alten Frau mit schwarzem Kopftuch. Hinter ihr qualmte ein fleckiger Grill, in dem sich blütenweiße, schlecht gerupfte tote Hühner drehten. Die Alte hatte lediglich drei Eier zu verkaufen.
Der Mann zählte ihr einen Haufen Ein-, Zwei- und Drei-Kopeken-Münzen in die Hand.
Sie trieben sich noch eine Weile zwischen den Händlern herum, wobei sie ständig die vertraute Aromamischung aus Knoblauch, Wodka und Schweiß in der Nase hatten. Der Mann kaufte in Irkutsk angebauten Tee, Buttermilchpiroggen, Weizenmehlhörnchen und Zuckerkringel, die junge Frau Plätzchen aus Tula, Kekse der Marke Goldenes Etikett und Prjaniki.
Dann stiegen sie die Fußgängerbrücke hinauf. Die unbeschwerte Spätwintersonne tönte den frisch gefallenen Pulverschnee rosa, wodurch ganz Irkutsk aussah wie eine Miniatur aus Marzipan. Die Luft war stechend dünn, der Mann keuchte. Mit schwirrenden Flügeln flatterte ein Sperlingsschwarm über ihre Köpfe hinweg. Lange blieben sie schweigend auf der Stelle stehen. Vor der ewig geschlossenen Hintertür der Bahnhofshalle befand sich eine von mehligem, leuchtend weißem Schnee überzogene Mistkaute, auf der an die zwanzig verrotzte streunende Katzen herumsprangen. Eine satte Eule beobachtete sie von einem Holzkreuz aus, das im Mist daneben festgefroren war. Sie gingen weiter zu den Kiosken. Auf deren Dächern und um die Laternenpfähle herum glitzerte der Schnee. Die junge Frau nahm die Mütze ab und ließ die Haare auf die Schultern fallen. Sie stellte sich in eine lange, muntere Zigarettenschlange, die sich zwischen zwei Geländern gebildet hatte, der Mann in eine plaudernde und zankende Zeitungsschlange. Er kaufte die Prawda und die Literaturnaja Gazeta . Als Wechselgeld bekam er einen in der DDR hergestellten steinharten Lolek-und-Bolek-Kaugummi. Nach langem Verhandeln gelang es der jungen Frau, Prima-Zigaretten und Baikal-Papyrossi zu erstehen. Aus irgendeinem Grund war der Verkäufer nicht bereit, ihr Belomorkanal zu verkaufen, obwohl er davon ein ganzes Regal voll vorrätig hatte. Nachdem der Mann die Zigaretten entgegengenommen hatte, drehte er eine der Prima-Schachteln in der Hand hin und her. Sie war mit einem Raumschiff verziert.
»Die Baikal stinkt nach Hundepisse. Die Prima schmeckt nach Pferdekacke und Breschnew, die Belomorkanal wiederum nach dem echten Väterchen Stalin.«
Sie gingen auf dem Bahnsteig zu ihrem Waggon zurück. Im Rauch schwebten einige große Frühjahrsschneeflocken. Die junge Frau blickte nach oben und ließ sich welche davon aufs Gesicht fallen. Der Mann starrte zu den Kiosken hinüber.
»Ich habe noch nie Georgier Schlange stehen sehen. Jetzt bin ich auch Zeuge dieses Wunders geworden.«
Im Waggon waren noch die letzten Reinigungsmaßnahmen im Gange. Die Waggonbediensteten hatten die Teppiche hinausgebracht, Sonetschka hatte den dicht gewebten Fußboden im Gang gesaugt und Arisa die Toilette geputzt sowie mit einem schwarzen feuchten Lappen die Türklinken und die Handläufe im
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