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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Eisschollen. Ein Teil ertrinkt, ein Teil erfriert, ein Teil wird gerettet. Warum nur? Es hat ihnen schließlich keiner befohlen, da hinzugehen.«
    Allmählich führte die Strecke vom See weg. Von Osten her schoben sich niedrig ziehende dunkle Wolken heran. Am Rand eines gewellten Ackers, dicht an der Bahnlinie, zappelte ein altes Schneehuhn mit den Flügeln. Weiter weg, ebenfalls an einem Feldrand, duckten sich ein windschiefes Gewächshaus und dahinter der Viehstall einer Kolchose. Vor dem Stall sah man ein Pferd und eine Heufuhre, auf der sich zwei Frauen zu schaffen machten, eine jüngere und eine ältere. Beide stopften Heubüschel durch die kleine Luke des Stallbodens. Dem Pferd hatte man eine schwarze Decke über den Rücken gelegt, ruhig und andächtig kaute es Heu. Ein schwarz gewordener Tretschlitten ragte aus dem Schnee. Die junge Frau hörte, wie jemand an der offenen Abteiltür vorbeiging und sagte, der Baikal reinige sich selbst.
    »Die Tataren hatten den Brauch, Kriegsgefangene an tote Soldaten zu fesseln«, sagte der Mann. »Bein an Bein, Bauch an Bauch und Gesicht an Gesicht. So tötete der Tote den Lebenden. Der Gute mag etwas erreichen, aber der Böse kriegt alles. Es ist vollkommen sinnlos, dem Bösen Widerstand zu leisten. Man wird es nicht los, auch wenn so manch einer von der Güte Gottes spricht.«
    Die Schienen ächzten in der grünen Dämmerung. Inzwischen war der Baikal weit zurückgeblieben. Die junge Frau stellte sich vor, wie zwischen seinen geheimnisvollen Untiefen seltsame Fische lebten und Medusenschwärme wolkengleich in der Tiefe jenes Meeres schwebten.
    Dann bremste die Lokomotive auf einmal wütend. Der Zug näherte sich einem Bahnhof und wirbelte heftigen Wind auf, der den in der Nacht gefallenen graupenartigen Schnee unbändig in alle Richtungen schleuderte. Der Zug hielt am Bahnhof von Ulan-Ude.
    Faul stieg die junge Frau aus. Auf dem Bahnsteig kamen ihr drei Katzen entgegen. Bei der einen war der Schwanz gestutzt, die zweite hatte ein glänzendes Fell und lächelte neugierig, der dritten waren die Ohren abgeschnitten worden. Wie betrunken torkelte sie über den gefegten Bahnsteig.
    Der nasskalte Nordostwind brachte die herben Klänge einer Balalaika mit, auf den Schienen verschnauften erschöpfte, stille Lokomotiven. Der Mann rannte bloß im Hemd an der jungen Frau vorbei, vorbei auch an dem Straßenfeger und direkt auf das Bahnhofsgebäude zu. Inzwischen hatte der milchweiße, rasch herabfallende Himmel angefangen, die vom Frostwind gezauste Erde mit kaltem Schneeregen zu bewerfen. Deprimierende Tristesse erfüllte das ganze Universum.
    Als der Mann zurückkehrte, hielt er in der einen Hand eine Flasche Sauerrahm und eine Einkaufstasche, in der anderen einen Strauß Chrysanthemen, eingewickelt in eine Prawda . Er überreichte der jungen Frau die Blumen, zwinkerte und verschwand flugs im Zug. Unter beiden Armen klemmten Wodkaflaschen. Auf dem Nebengleis kam zirpend ein Regionalzug angezuckelt. Das Volk, das ihm entstieg, dünstete eine dicke Wolke aus gemischten Hausgerüchen aus, der Wind packte die Wolke und schleuderte sie der jungen Frau entgegen. Sie betrat den Zug und ging in ihr Abteil. Dort saß der Mann mit gelassenem Gesichtsausdruck auf dem Bett, die Flaschen hatte er auf den Tisch gestellt.
    »Hier haben wir zwei volle Flaschen mit sogenanntem Wodka. Anständiges Land. Zwar herrscht Alkoholverbot, aber hier, im Tal der Randgebietssorgen, weiß man davon nichts. Den Grenzregionen kann keiner Vorschriften machen.«
    Er bedachte die junge Frau mit einem sanften Blick.
    »Weißt du, Baba Jaga, dass wir uns in der Hauptstadt der autonomen sozialistischen Sowjetrepublik Burjatien befinden? Die kauderwelschen in einer seltsamen Sprache und beten Buddha und Jesus gleichzeitig an.«
    Er deutete auf die Haare der jungen Frau.
    »Vorne Pony und hinten gerade. Nicht besonders elegant.« Der Mann lachte, legte seine Hand väterlich auf die Hand der jungen Frau und drückte sie.
    »Wir passen gut zusammen, die Hexe und Kostschej der Unsterbliche, der Geist des Teufels … Dieses Land beherbergt mehr als hundert verschiedene Nationalitäten. Wenn davon eine oder auch drei vernichtet werden, ist das eine Kleinigkeit. Im Norden hüten sie Rentiere, und in Georgien keltern sie Wein. Hier gibt es die nordische Tundra und die unendlichen Wälder. Im Süden breiten sich die Steppen aus, im Südosten die Sandwüsten, und in Kaukasien ragen gewaltige Berge empor, mit engen Pässen

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