Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
Vom Netzwerk:
Chruschtschow kaufte ihm sogar ein kleines Flugzeug, um den Genossen aufzumuntern! Aber wie es dann so geht. Gagarin flog mit der Maschine über den Wolken und suchte den Tod. Lange musste er nicht suchen, weil er gegen einen Berghang prallte und starb. Auf Juri Gagarin und die tapferen Kosmonautenhunde Belka und Strelka!«
    Am Nordostufer des Baikal hatte man dicht am Wasser eine Zwiebelkirche errichtet, die wie ein Spielhäuschen für Kinder aussah. Um sie herum standen einige Zirbelkiefern, von deren schwankenden Ästen der schmelzende Schnee tropfte. Wenn der Wind stärker wurde, kratzten die weichen, langen Nadeln der Bäume an den zerfasernden Wänden der Kirche. Die junge Frau stellte sich vor, wie sich die schwere Nacht über den Baikal legte und wilde, ruhelose Sterne wie Glühwürmchen zwischen den dichten Kiefernästen aufblinkten. Zwei Motorräder mit Beiwagen fuhren über das Eis. Der eine Beiwagen war rot und voller lebender, aneinandergebundener Hühner, der andere blau. Hier und da kauerten Eislochangler. Mit quietschenden Rädern fuhr der Zug in einem Bogen nah ans Ufer heran. Die junge Frau sah ein kleines Karussell und Klettergestelle für Kinder, die unter dem Schnee begraben lagen. Langsam schlängelte sich der Zug voran, bis er einen fröhlichen Pfiff ausstieß und in einen Tunnel einfuhr. Stille Dunkelheit machte sich breit. Der Zug polterte träge voran, dann hielt er plötzlich an.
    Eine halbe Stunde lang stand er im dunklen Tunnel, die stechenden Strahlen der Deckenlampe zeichneten ein Muster auf den Kunststoffboden. Die junge Frau spürte den Atem und die friedlichen Herzschläge des Mannes. Er sah sie unter schweren Lidern hervor an.
    »Ein Fall aus dem Leben, meine kleine Beere«, sagte er und ließ sich aufs Bett fallen. »Ein gewisser Kolja kratzte zwei Tage, bevor er vierzig wurde, ab. Wir begruben ihn auf dem neuen Friedhof von Moskau neben der jung verstorbenen schönen Anna Pawlowna Dorenko. Ein Jahr verging, und es kam Christi Himmelfahrt. Magnetischer Wind blies aus dem Norden, als ich, Wowa und Gafur beschlossen, unserem alten Freund auf dem Friedhof Guten Tag zu sagen. Wir nahmen zwei Taschen Proviant und fünf Flaschen Wodka mit. Wowa breitete eine Tischdecke auf dem Grab aus, und Gafur verteilte das Essen darauf. Wir gaben Kolja etwas Wodka und ließen Belomorkanal-Zigaretten aufs Grab fallen, als ein Grüppchen reizender Mädchen auftauchte, und so kam es, dass ich schon vor Mitternacht einen prallen Hühnerarsch bumste. Das Flittchen lag mit gespreizten Beinen auf dem Grabhügel, und ich starrte auf das hübsche Gesicht der Anna Pawlowna, das auf den Grabstein gemalt war. Anna schaute zurück und lächelte. Da dachte ich zum ersten Mal im Leben, dass nach dem Tod vielleicht doch noch etwas kommt.«
    Die junge Frau machte die Abteiltür einen Spaltbreit auf. Auf dem Gang spielte ein kleines Lockenköpfchen mit einer Matrjoschka. Es dauerte nicht lange, und die kleinste Puppe, diejenige, die der Schreiner nicht mehr fertig geschnitzt und der Künstler nicht mehr richtig bemalt hatte, fiel dem Mädchen aus der Hand und rollte auf dem Gangteppich zum Klo, dessen Tür nicht geschlossen war und deshalb klapperte.
    Der Mann saß in einem bunten Hemd auf dem Bett und schaute müde aus dem Fenster. Man sah nur die felsige Tunnelwand, auf die jemand mit roter Farbe geschrieben hatte: »Der Baikal geht kaputt.«
    »Weißt du, was eine Wiener Quadrille ist? Sie geht so: Man holt fünfzig Mann aus einem Kerker und fährt sie mit einem Lastwagen zum Hinrichtungsort. Dort befiehlt man ihnen, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann wird zum Beispiel die Zahl Acht ausgegeben. Das heißt, dass jeder Achte erschossen wird. Die Übrigen werden wieder ins Verlies gebracht, wo sie auf die nächste Nacht warten. So was. Und Quadrille heißt es deshalb, weil die Gefangenen zum Beispiel sechs Mal den Platz wechseln müssen, wenn jeder Achte erschossen wird. Zuerst bist du der Dritte, dann der Fünfte, dann bist du der Erste und so weiter.«
    Der Zug fuhr ruckhaft an und aus dem Tunnel hinaus. Die Helligkeit des Frühjahrstages blendete. Jemand rief Hurra. Beiderseits des Ausblicks wurden die Ufer des Baikal breiter.
    »Letztes Jahr um diese Zeit sah ich vom Fenster dieses Zuges aus zu, wie ein Rettungshubschrauber versuchte, ausgekühlte Pilker von treibenden Eisschollen zu holen. Jedes Frühjahr dasselbe. Die Pilker hocken auf dem Eis, das Eis gerät in Bewegung, und die Kerle treiben auf den

Weitere Kostenlose Bücher