Abteil Nr. 6
Zeitschriftenkiosk. Vor dem Haupteingang der Bahnhofshalle war im Laufe des Tages eine große Pfütze entstanden, die in der Nacht abgekühlt war. Eine dünne Eisschicht glänzte auf der Oberfläche.
Am Rand des Bahnhofsplatzes standen zwei schwarze, elchnasige Wolgas, die mädchenhaft lächelten, ein Moskwitsch, ein kleiner roter Jalta und ein giftgrüner Pobeda. Die Motoren liefen, während die Fahrer im Kreis beieinanderstanden und sich unterhielten. Eine dichte Abgaswolke hüllte den Platz ein. Vorsichtig näherte sich die junge Frau den Männern und fragte, ob sie jemand zum Hotel Progress fahren könne. Die Männer brachen in lautes Gelächter aus. Einer mit schwarzem Schnurrbart, in dessen Mund ein Goldzahn blitzte, schnappte sich ihren Rucksack und winkte sie zu seinem Moskwitsch.
Der Fahrer schaltete das Radio ein, und im Nu füllte Galina Wischnewskaja mit der Briefarie der Tatjana den Wagen. Allerdings jammerte die Schaltung, und der Motor brüllte die Arie nieder. Im Licht des Halbmonds leuchtete der gefrorene Schneematsch. Der Fahrer wandte sich der jungen Frau zu:
»Chabarowsk ist die schönste Grenzstadt der Welt. Hier steht das größte Wunder des zwanzigsten Jahrhunderts, die Brücke über den Amur. Auf der anderen Seite liegt China, eine Provinz von uns. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen morgen die Brücke. Ich komme um zwölf vors Hotel. Einverstanden?«
Das grüne Licht eines anderen Taxis huschte vorbei und verschwand im undurchsichtigen Kältenebel. Die junge Frau atmete die Großstadtnacht ein, sie roch in schon vertrauter Weise nach verkohltem Eisen und ofenfrischem Stahl. Im Süden war der Himmel über der Stadt stockfinster, doch im Osten blinkten die schmutzig gelben Lichter des fernen Hafens, am Himmel funkelte ein roter Stern.
Lange musste die junge Frau an der Tür des sechzehnstöckigen Hotels rütteln, bis eine schläfrige, grauhaarige Frau in Pantoffeln kam, um aufzusperren. Die Hotelhalle war äußerst gedämpft erleuchtet. An der Wand hingen Kopien von Cézannes Obststillleben und Wasnezows Kriegern. Die junge Frau legte ihr Hotelvoucher vor und füllte einen Stoß fleckiger Formulare aus, dann stieg sie die Treppe in den zwölften Stock hinauf, der Aufzug funktionierte nicht.
Das Hozelzimmer war groß und das Bett breit und sauber. Der Heizkörper zischte wie ein Dampfbügeleisen. Sie drehte den Hahn an der Badewanne auf. Wütend spuckte er braunes Wasser. Die Millionenstadt schlief fest.
Am nächsten Morgen verhüllte dunstige Dämmerung den gelben Mond zur Hälfte, am östlichen Himmel zeigte sich rasches Purpur. Aus der raschelnden Bettwäsche heraus betrachtete die junge Frau die nach Zigaretten riechende Leselampe aus Terylenstoff. Sie hatte so eine Lampe schon mal irgendwo gesehen, wusste aber nicht mehr, wo. Dann schob sie die vom Leben verfleckten Vorhänge zur Seite und ließ den Morgen herein.
Auf der anderen Seite des Amur, in China, wankte die Sonne und spie eisige Lichtfasern auf die Flachdächer der Plattenbauten. In der Mitte des Flusses verlief eine Fahrrinne, wo sich die losen Eisschollen über Nacht zu Packeis gestaut hatten. Weit unten ratterte mit stechendem Klirren eine rote Straßenbahn vorbei.
Die lebendige Sonne setzte sich in Bewegung. Sie kroch von der Eisfläche des Amur auf die schneebedeckten Dächer der erwachenden Stadt. Gelbrotes Licht, der einheitliche Strom kleiner Schneeflocken sowie der Lärm der zur Arbeit hastenden Einwohner – all das wehte durch das offene Belüftungsfenster ins Zimmer. Zwischen den Schneewällen auf dem baumlosen Boulevard gingen ameisengroße Menschen mit Essenstüten, Räucherfischkisten oder Gurkengläsern. Ein Schornsteinfeger hing an uralten Gurten und putzte den Kamin eines grünen Wohnblocks. Auf den Autodächern glitzerte Reif, Hupen röhrten, Motoren heulten, Auspuffe schrammten über vereistes Bitumen, die Oberleitungsbusse schlugen Funken, Straßenbahnen klonksten von Haltestelle zu Haltestelle.
Die junge Frau duschte, trocknete sich die Haare und zog sich träge und genussvoll langsam an, dann ging sie in die Hotelhalle hinunter, wo man ihr lauwarmen Tee und guten fettigen Fisch servierte.
Draußen hustete der klapprige Moskwitsch, der aussah, als wäre er in Heimarbeit zusammengebaut worden. Als der Fahrer die junge Frau sah, nickte er zufrieden. Sie hörte kurz den herben Klängen eines charismatischen Akkordeons zu, die aus einer fernen Straße herangetragen wurden, eine simple Melodie über eine
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