Abteil Nr. 6
dazwischen. Wenn der Wind rauschend über einen solchen Pass hinwegbläst, bringt er eine große Wolke mit. Es gibt die Küste der Krim und die Sümpfe Weißrusslands. Es gibt die Arschgeigen mit den Birkenrindenschuhen an der Wolga, das kreischende Ringelreihen der Tschetschenen, die Zaubertrommeln der Jakuten, die Rentiere der Tschuktschen, Ainu, Samojeden und Korjaken, die Schafe der Kalmücken und die Säbel der Kosaken, den Schinken aus Tambow, den Sterlet aus der Wolga und die Äpfel aus Rjasan. Und was noch alles … Lass gut sein. Ein Georgier hat mir mal gesagt, die Geschichte der Georgier und der Armenier sei länger und großartiger als die der Russen. Die Russen hätten noch in Höhlen Laute ausgestoßen, als die Georgier schon Kirchen gebaut und Gedichte gemacht hätten. Das ist eine Lüge.«
Der Zug pfiff heiser, und die Räder setzten sich wimmernd in Bewegung. Arisa stand auf der obersten Stufe, hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest und ließ ein Bein in der Luft baumeln.
»Alle fernen Völker und ihre schönen Kulturen blühen strahlender als je zuvor, auch wenn man sie eigentlich russisch machen sollte. Denk nur an all die tausend Sprachen, die bei uns Jahr für Jahr bewahrt werden, obwohl die russische Sprache ohne Weiteres ausreichen würde! Wir Russen sind bescheidene, zähe und geduldige Leute, wir machen den anderen bereitwillig Platz. Aber ewig kann das so nicht weitergehen.«
Er nahm Nadel und Faden aus der Tasche und fing an, den gerissenen Griff der Tasche zu reparieren. Während des Nähens blickte er kurz auf den Lautsprecher, aus dem Beethovens Siebte drang.
»Wenn wenigstens jemand singen würde, aber von dem verdammten Getöse wachsen einem ja Haare in den Ohren.«
Die stattliche Stadt Ulan-Ude mit dem größten Lenin-Kopf der Welt auf ihrem zentralen Platz verschwand in der Ferne, der Zug zockelte durch die wilden Täler und Berge der unterm Schnee begrabenen ewigen Taiga. Schwarze Höhenketten säumten die Ebenen. Die junge Frau dachte an Mitka und an den Maschendraht vor dem Gangfenster der Psychiatrie. Der Diagnose des Militärarztes zufolge war Mitka psychotisch, weshalb man ihm Psychosemedikamente verabreichte. Zwingt man einen gesunden Menschen, solche Medikamente einzunehmen, heißt das nichts Gutes. Mitka war in der Klinik schwer erkrankt, er konnte nichts mehr essen, sein seelischer Zustand war erbärmlich.
Der Löffel klimperte im Teeglas. Hin und wieder unterbrach der Mann seine Näharbeit und beschäftigte sich mit seinen Wodkaflaschen, wischte sie ab, studierte die Etiketten, kontrollierte, ob die Verschlüsse richtig zu waren. Aber er machte sie nicht auf, sondern betrachtete und bewunderte sie nur.
»Wenn ich zwischen zwei Übeln wählen muss, nehme ich immer beide.«
Etwas später legte er Staudensellerie und frischen Knoblauch auf den Tisch und öffnete ein Glas mit kaltem Borschtsch. Der jungen Frau reichte er einen riesigen Löffel. Er schmatzte und schnaubte, und seine großen Ohren wackelten. In gleichmäßigen Abständen fügte er der Suppe kochendes Wasser und Sauerrahm hinzu. Die Suppe schmeckte gut, und der Duft des Selleries erfüllte das Abteil. Der Mann gab der jungen Frau eine Flasche Pepsi.
»Wenigstens einmal während dieser Fahrt sollst du einen heimatlichen Geschmack im Mund haben, mein Mädchen. Das hier ist Breschnews Getränk, und darum trinke ich es nicht.«
Mitten in der Nacht erreichte der Zug den Bahnhof Chabarowsk. Das Stadtschild war von dickem Schnee verhüllt, das galt auch für die Dächer der Waggons, die auf den Gleisen schliefen. Die junge Frau beeilte sich, aus dem Zug zu kommen. Brennender Nachtfrost ergriff ihr Gesicht. Die Luft war so brüchig, dass man nur schwer atmen konnte. Aus einigen Lampen sickerte gelbliches Licht, vergeblich versuchten sie, den Bahnhof zu erleuchten. Die Stadt war so voll von dichter Nacht, dass die junge Frau schon wieder umkehren wollte.
Sie zwang sich aber weiterzugehen und betrat mit knirschenden Schritten das Bahnhofsgebäude. Kein Mensch hielt sich darin auf, die Fahrkartenschalter waren zu, und im Dunkeln schmollten geschlossene Kurzwarengeschäfte.
Die junge Frau ging durch die Bahnhofshalle, vorbei an einem Lädchen, das Plastikstifte und Notizbücher verkaufte. Eine fette Katze kam ihr entgegen, sah neugierig zu ihr herauf, bewegte den Schwanz, sprang dann über eine Schlammpfütze hinweg, die von den Reisenden hereingetragen worden war, und verschwand hinter einem
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