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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Zigarettenetui aus ihrer jugoslawischen Handtasche und rauchte mit einer Zigarettenspitze aus gelbem Bernstein. Ihre Handgelenke waren zart und schön.
    Die junge Frau bestellte Hirsebrei, Sauerkraut und Kotelett, in Wodka gequollene Erbsen, Lauchzwiebeln und Rührei mit Tomatenscheiben.
    »Ist in Ihrem Bad alles in Ordnung?«, fragte die Frau. »Ich kann nicht schlafen, weil der Gasboiler die ganze Nacht pfeift und dröhnt. Ich bin so einen Lärm nicht gewohnt. Die letzten fünfzehn Monate habe ich in der Taiga verbracht, das Stadtleben greift meine Nerven an.«
    Sie schmunzelte, rückte ihre Pelzmütze zurecht und nahm eine neue Zigarette aus ihrer kleinen Handtasche.
    »Monatelang haben wir weit im Norden nach Öl gesucht, aber diesmal nichts gefunden.«
    Sie zündete sich die Zigarette an und betrachtete lange die Glut.
    »Wenn Öl gefunden wird, machen die Planierraupen alles platt, und es werden Ölpumpen installiert. Die Hunde werden erschossen, weil man sie nicht mehr braucht. Die Dorfbewohner werden abtransportiert, ins Nachbardorf, das unter Umständen dreihundert Kilometer entfernt liegt. Straßen gibt es natürlich nicht.«
    Sanft blies sie den Rauch auf die rosa Nelke, die allein in der hohen Vase strammstand.
    »Dieses Mal sind wir mit leeren Händen abgezogen. Zurückgeblieben ist ein von Geländewagen, Traktoren und Raupenfahrzeugen misshandeltes Dorf. Unsere Niederlage war das Glück der Dorfbewohner. Jetzt fliege ich nach Moskau, um mich auszuruhen, ich habe drei Monate Urlaub. Mit meinen nichtsnutzigen Freunden werden ich über den Mira-Prospekt spazieren, wir werden in Cafés herumsitzen und geistreichen Unsinn reden. Nach drei Monaten Urlaub komme ich immer gern wieder hierher. Mir gefällt es hier. Ihnen nicht?«
    Sie sah die junge Frau mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an.
    »Ich bin nicht verheiratet, weil ich gern unter Menschen bin. Ich denke wie Tschechow: Wenn du die Einsamkeit liebst, dann heirate.«
    Hinter dem Tresen hielten sich mindestens zehn Bedienungen auf. Am einen Ende saß eine aufgequollene Kassendame, die von jungen auf die Entladung ihres Lastwagens wartenden Männern zum Lachen gebracht wurde. Der Türwächter mit dem steifen Rücken plauderte mit einer alten Aufseherin. Diese hockte hinter ihrem kleinen Tisch, in eine gehäkelte Angorastola gewickelt, und spitzte Bleistifte. Vor sich hatte sie ein grünes Plastiktelefon und einen braunen Kalender. In einer Ecke im Eingangsbereich saßen überalterte Putzfrauen mit Blecheimern zwischen den Füßen und riesigen schwarzen Lappen in den Händen. Die Geschirrabräumer hatten einen Restauranttisch in Beschlag genommen, die Garderobiere war auf ihrem knarzenden Stuhl eingeschlafen, umgeben von schweren Wintermänteln.
    Dann betrat eine Kapelle in einheitlicher dunkler Kleidung das Podest. Der Bassist war Chinese, der Schlagzeuger sah koreanisch aus. Nicht lange, und die Melodie von Moskauer Fenster schwebte im Zigarettenqualm über der Tanzfläche.
    Ein eleganter junger Japaner forderte die Frau mit der Pelzmütze zum Tanzen auf. Bald bewegten sich mehrere Paare langsam auf dem Parkett, bestrahlt von einer Kristalllüsternachbildung aus Plastik, die sich in alle Richtungen streckte. Darunter verdichtete sich alles, was an Fröhlichkeit und Traurigkeit in der dunklen, in nächtlicher Feuchtigkeit schlummernden Stadt vorhanden war.
    Draußen wirbelte der Wind Schneeflocken auf. Lenin winkte unbeschwert mit einer Hand zum Fenster herein. Es dauerte nicht lange, bis sich die Frau mit der Pelzmütze von ihrer jungen Tischnachbarin verabschiedete und mit ihrem Japaner in den Tiefen des Hotels verschwand.
    Die junge Frau verließ das Restaurant. Draußen war der entfärbte wolken- und sternenlose Himmel ihr Begleiter auf dem Weg durch die im Schlaf versinkende Stadt. In einer Seitenstraße steckte sie den Kopf zur Tür eines Bierlokals hinein, und bitterer Rauch schlug ihr entgegen. Sie zögerte kurz, trat aus Neugierde aber ein. Auf dem schmutzigen Boden lagen zwei betrunkene Muschiken. Sie bestellte ein Glas Bier, bekam jedoch ein blaurotes Gebräu, das übel schmeckte. Sie stellte das Glas auf den Tisch und ging.
    Um sie herum weitete sich die menschenleere, undurchdringliche Nacht. Nur der Wind bewohnte die finstere Stadt, begleitet vom Schneetreiben. Sie kam am Denkmal von Chabarowsk vorbei, der einen erbärmlichen Fichtenschössling in der Hand hielt, ging einen Boulevard mit Laubbäumen entlang und betrachtete die prächtigen

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