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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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man in diesem Fluss Hechte, Welse, Karauschen, Karpfen, Alande und Kaulbarsche fangen. Und jetzt? Nichts mehr. Aber ich fische noch. Ich fische, weil ich immer gefischt habe. Gegen seine Natur kommt man nicht an.«
    Ohne sich um die Warnungen der Männer zu kümmern, setzte die junge Frau ihre Wanderung am vermüllten Ufer fort, vorbei an einem verrosteten Transportschlitten, alten Vorhängeschlössern, dem riesigen Rohling einer Boje, einem Fahrraddynamo, einer Erinnerung an eine Feuerspritze, an verrotteten Schubkarren, Stahlstangen, einem Zylinder aus Kupfer, einem kleinen Motor, an Stöpseln, Deckeln, zerschlagenen Wodkaflaschen, Metalleimern ohne Boden, einem verölten Emailletopf, an Hängegewichten, Wasserrohren, Schrotkugeln, einem Traktorlenkrad, dem Boden eines Federbetts und einem durchgerosteten Schild mit der Aufschrift »Hauptstelle der wissenschaftlich-technischen Organisation zur Erforschung der Erschütterungen von Industrieaggregaten«.
    Die vitale Frühjahrssonne brachte das Eis am Ufer zum Schmelzen. Der Wind rauschte, und der Fluss stank verdorben. Ein Geruch nach morschem Holz, aufgeweichten Sägespänen, Haushaltsmüll, Öl, Diesel und Abfällen der Frachtschiffe überlagerte den immateriellen Duft des weichenden Eises.
    Immerhin lag an schattigen Stellen noch reiner Pulverschnee. Dort fühlten sich die Sumpfvögel wohl, die mit ihren glatten Schnäbeln Löcher ins Flusseis schlugen. Jemand hatte mit weißer Farbe auf die felsige Uferböschung geschrieben: »Nieder mit Jermak, nieder mit den Stalin-Hitlern!« Ein heimtückischer Wind zerrte an einem kleinen Frachter mitten im Packeis, und aus den zerfaserten Schornsteinen des sechswandigen Hafengebäudes stieg dünner, bläulicher Qualm auf.
    Die junge Frau erklomm den hohen Uferwall. Unmittelbar über ihr schwebte ein tausendköpfiger Schwarm Wildgänse. Vom Oberlauf des Flusses strömten trübe Wassermassen herbei und ließen die Eisschollen immer höher steigen. Das Grollen nahm zu. Auch die letzten Eisfelder zerbrachen zu Schollen, die sich übereinanderschoben und gegen die Uferböschung krachten. Nichts konnte die Wucht des Eises aufhalten, es zermalmte sämtliche Konstruktionen und Stege am Ufer. Die junge Frau kletterte auf einen Felsen. Dort war ein Herz hineingeschlagen worden, in dessen Mitte stand: »Walentina + Wolodja 14.8.1937«.
    Sie stieg immer weiter nach oben und sah dann etwas weiter weg einen kleinen Park, zu dem ein Trampelpfad führte. Dort setzte sie sich kurz zum Ausruhen auf eine Bank. Die gelassen vom blassblauen Himmel herabblickenden Wolken rochen ebenfalls nach Frühling. Sie lauschte dem fernen Ochotskischen Meer und betrachtete die Baustellen der modernen Wohnblocks, die langsam in der Erde zu versinken schienen. Hinter einer verschneiten Zirbelkiefer tauchte eine Militärkapelle auf. Die Musiker trugen schwarze Mäntel und schwarze Pelzmützen mit Kokarden und bewegten sich mit Trippelschritten auf einen kleinen Springbrunnen im Park zu. Vor dem zugeschneiten Brunnen stand ein Pfahl, an dem eine Lampe mit Blechhaube befestigt war. Sie klapperte scharf im mäßigen Wind, der vom Fluss kam. Die Musiker stimmten ihre kalten Instrumente, dann schwenkte der Dirigent den Taktstock, und ein leichter Militärmarsch erscholl.
    Gegen Abend fing es an, Eisnadeln zu regnen. Die junge Frau irrte noch immer durch die Stadt. Über den unebenen Straßen hing das grellrote Licht der sterbenden Sonne. Als sie weiter aus der Innenstadt hinausging, wurden die Straßen zunächst schmal und kränklich und verliefen launisch, wurden dann aber gerade und übersichtlich. Sie sehnte sich nach Moskau und Arbat, wo sich die engen Straßen lustig schlängelten. Allmählich erzeugte der böige Ostwind Schneegestöber. Er zerriss die Wolken und ließ den Himmel aufklaren. Da machte sich die junge Frau auf den Weg zurück ins Stadtzentrum.
    Im Hotel ging sie direkt zum Restaurant. An der Tür hingen drei Schilder: »Geschlossen«, »Zur Abendessenszeit geschlossen«, »Geschlossen wegen Inventur«. Das Restaurant war voll, und die junge Frau trat ein. Neben Einheimischen saßen ein paar chinesische Handelsreisende, zwei Koreaner und der eine oder andere japanische Hotelgast. Eine Bedienung mit birnenförmigem Körper wies ihr einen Fenstertisch an, wo bereits eine dünne Frau mit lebhaftem Gesicht und struppiger Pelzmütze saß. Die beiden Frauen blickten sich im Saal um und sahen zwischendurch einander an. Die Dünne nahm ein schönes

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