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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Ornamente an den Häusern. Von zwei Straßen wählte sie immer die schmälere. Die Häuser waren dunkel, nur in wenigen Fenstern brannte mattgelbes Licht.
    Irina hatte sie zum ersten Mal im Lenin-Mausoleum geküsst. Es war so schnell und zart vonstattengegangen, dass die jungen Wachsoldaten es nicht gemerkt hatten. Oder falls doch, so hatten sie ihren Augen nicht getraut. Als die beiden Frauen nach Hause zurückkehrten, wurden sie von Mitka mit einem schiefen Lächeln begrüßt. Auf den zweiten Kuss musste die junge Frau lange warten. Als es dann geschah, gab es kein Zurück mehr. Es passierte zur selben Zeit, in der Mitka, mit Gurten fixiert, in der Irrenanstalt lag. Und dann kam der Tag, an dem Mitka freigelassen wurde. Es war für sie alle ein Freudentag, auch wenn Irina und die junge Frau wussten, dass ihnen und Mitka das Schlimmste noch bevorstand.
    Nachdem sie lange genug nach Süden und nach Norden gegangen war, beschloss die junge Frau, mit der Straßenbahn zum Hotel zurückzufahren.
    In der Stadtmitte stand ein großes Kaufhaus. Daneben lag ein schmutzig gelber Schneehaufen, und vor dem Eingang breitete sich eine teichgroße Schlammpfütze aus, um die alle Leute einen sorgfältigen Bogen machten. Mitten in der Pfütze stand eine stolze Möwe. Die junge Frau stieg die schmierige Kaufhaustreppe hinauf, kaufte eine kleine Flasche Parfüm der Marke Rotes Moskau und zwei Tafeln Schokolade. Auf der einen war Puschkin abgebildet, und auf der anderen lächelte ein kleines Mädchen mit Kopftuch. Als sie am Abend schließlich mit forschen Schritten zum Bahnhof ging, fiel der wilde rote Stern hinter einen bereiften Rosenbusch, die Straßenlaternen erloschen lautlos, und um die junge Frau herum wuchs die Dunkelheit Asiens. Sie hörte den fernen Pfiff eines Zuges und sah die Gleise in der Finsternis glänzen. Ein Regionalzug kroch heran und entlud einen Strom von Werktätigen, der rechts und links an der jungen Frau vorbeizog.
    Frierend eilte sie durch die halb offene Paradetür in die Bahnhofshalle. Der ölige Boden blinkte, und in den Pfützen schillerten Lichttropfen aus den Kronleuchtern. Dort, im Gewölbe der Bahnhofshalle, traf sie den Mann. Er roch nach Sauerkraut, Wodka, Zwiebelsuppe und Apotheke. Seine Anwesenheit besänftigte ihr ängstliches Gemüt.
    »Ist dir schon aufgefallen, dass alle Städte und Ortschaften gleich sind? Hast du eine gesehen, hast du alle gesehen. Aber jetzt gehen wir Hühnerbrühe und dünne Nudeln essen, denn bald fahren wir ins Land der Mongolen.«

Der große gedrungene Oberschaffner steckte die Trillerpfeife in den Mund und pfiff lange. Kurz darauf heulte die Lokomotive drei Mal auf, und der Zug setzte sich dröhnend in Bewegung. Die Räder schlugen Funken auf den Schienen, aus den beigen Plastiklautsprechern erschallte der heitere, grobschlächtige Säbeltanz von Chatschaturjan.
    Der Mann zog dem Lautsprecher und dessen defektem Lautstärkeregler mit qualmender Zigarette im Mundwinkel eine Grimasse.
    »Dieser Gänseschwarm ist aus dem Arsch geboren worden«, stellte er fest, packte sein Kopfkissen und drückte es fest auf den Lautsprecher. »Eigentlich habe ich keine Lust, zarte Töne zu ersticken, aber es geht nicht anders.«
    Zurück bleibt Chabarowsk mit dem Rauch aus den fensterlosen Fabriken und den Smogwolken, die im Frühjahr auftauen. Zurück bleibt Chabarowsk, das Paris Sibiriens, mit seinen ornamentreichen, von der Patina der Zeit überzogenen Häusern. Zurück bleibt die von Schwerindustrie und Ölraffinerien getötete Erde, die von verlassenen, modernden Stahlbetonplatten umgebene Stadt, durch deren Gassen die Frauen in Pelzstiefeln mit hohen Absätzen gehen, zurück bleiben das kurz vor dem Zerfall stehende, aus chinesischem Stahl errichtete Stadtkombinat und die stinkende Fischfabrik. Zurück bleibt Chabarowsk, die schwach beleuchtete schöne Stadt, die müde Erde. Das dort ist noch Chabarowsk gewesen, die verlassene Industriezone, der gepflanzte Kiefernwald, die tot geborene, unfertige Wohnblocksiedlung, der verschmutzte, kranke Wald, der dichte Lärchenwald, die Frau mit ihren Essenstüten, die miserabel retouschierten Fotos der Generalsekretäre an den Telegrafenmasten. Der Zug beschleunigt. Eine fünfte Plattenbauansammlung, Siedlung genannt, im Überlebenskampf gefallene Einfamilienhäuser, offenes Land, chinesischer Wald, Brachacker, ein einzelnes neunstöckiges Haus auf den Feldern. In der Ferne saust in Zuggeschwindigkeit der letzte Überrest einer Fabrik

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