Abteil Nr. 6
zogen, aus. Im Hof eines dreistöckigen Hauses spielte eine Schar Kinder in bunten Winterkleidern. Der Deckel der Abfalltonne war abgerissen worden, und der Müll quoll auf den vereisten Hof. Hinter der Tonne schimmerte der Kadaver eines zerfleischten Fohlens hervor.
Die junge Frau kehrte zum Hotel zurück und dachte unterwegs an den Mann und an das, was er über die Mongolen gesagt hatte: Wie kann ein Volk, das über eine so große Geschichte verfügt, nur so verkommen sein?
Sie suchte nach der Telefonnummer, die Irina ihr mitgegeben hatte, und wählte sie am Hoteltelefon, eine Stunde später erst erhielt sie ein Freizeichen. Eine sanfte, freundliche Männerstimme meldete sich. Nachdem sie ihm Grüße von Irina ausgerichtet und dargelegt hatte, wer sie war und warum sie sich in der Stadt aufhielt, brach der Mann in unkontrolliertes Gelächter aus. Schließlich vereinbarten sie, dass er am nächsten Abend nach der Arbeit mit einem Freund zum Hotel kommen würde.
Wieder saß die junge Frau auf der Couch. Die späte Glut der kranken Sonne flimmerte drückend über den Jurten. Sie schaltete das Radio ein. Es kam ein russischer Sender. Nachrichten, Berichte, Reportagen über die Wahlen des ganzen Volkes und ein bisschen Strawinski.
Es war Abend, sechs Uhr, und genau wie vereinbart, klopfte es an der Tür. Auf dem Gang standen zwei große, kichernde dreißigjährige Männer. Schüchtern nahmen sie im Wohnzimmer auf der Couch Platz. Die junge Frau bot ihnen Black-Label-Whisky an. Die Männer leerten ihre Gläser im Nu, und als die junge Frau die Gläser wieder füllte, passierte das Gleiche. Die Männer versprachen der jungen Frau, ihr das echte Ulan-Bator und die echte Mongolei zu zeigen.
Um acht klopfte es energisch an der Tür. Noch bevor die junge Frau öffnen konnte, ging die Tür auf, und drei stämmige Männer traten ein. Die Gesichter der beiden Besucher auf der Couch wurden gelb, und im nächsten Moment waren alle fünf Männer weg. Man hörte ihre Schritte noch eine Weile auf dem Gang. Die junge Frau begriff, was geschehen war und um wen es sich bei den Abholern gehandelt hatte. Alle Kraft schwand aus ihren Beinen, eisige Schauer liefen ihr über den Körper, sie fror und fühlte sich sehr schwach. Sie versuchte zu schlafen, aber es ging nicht, eine Januarnacht in Moskau drängte sich in ihren Kopf.
Sie hatte mit Mitka vor der Metrostation Roter Oktober gestanden und geflucht, sie hatten die letzte U-Bahn verpasst. Hinter ihnen lag ein langer Abend bei Arkadij mit viel Wein und Zigaretten. Sie froren und versuchten, vorbeifahrende Autos zum Anhalten zu bewegen. Schließlich stoppte ein blauer Lada. Am Steuer saß ein kleiner, behaarter, dunkler Mann, der versprach, sie nach Hause zu bringen. Unterwegs fragte er Mitka, ob er Haschisch von guter Qualität kaufen wolle. Bald befanden sie sich weit weg von zu Hause, in einer heruntergekommenen Trabantenstadt. Die junge Frau und Mitka folgten dem Mann in eine Wohnung, die nicht möbliert war. Zwei schmutzige Matratzen lagen auf dem Boden, außerdem Zigarettenkippen und leere Schnapsflaschen. Mitka wickelte das Geschäft ab, und gerade als sie sich auf den Weg machen wollten, schnappte sich der Fahrer hinter der Tür ein Beil und schlug Mitka bewusstlos. Die junge Frau kam nicht einmal dazu zu schreien, so schnell und so fest hatte der Fahrer sie am Hals gepackt. Sie war kaum fähig zu atmen. In den frühen Morgenstunden schlief der Fahrer dann im Suff ein, und Mitka gelang es, sich blutverschmiert ins Treppenhaus zu schleppen und jemanden um Hilfe zu bitten.
Die junge Frau öffnete die Augen. Sie hörte kein anderes Geräusch als das heftige Pochen ihres Herzens und das auf zwei Tönen herumhackende Ticken der Uhr. Sie nahm die Uhr an sich und stopfte sie in den Koffer. Danach hielt sie sich wach, um aufs Neue einschlafen zu können und so von sich und ihren Ängsten befreit zu werden. Der mongolische Himmel füllte sich indessen mit Sternen; sie waren hell und nah, sie erleuchteten den schwarzen Himmel wie ein Blitz im Sommer, aber die junge Frau verkroch sich unter der Bettdecke und sah sie nicht. Das Hotel war still, Ulan-Bator war still. So tief war die Stille des Universums, dass die junge Frau nur das Rauschen in ihren Ohren hörte. Das Entsetzen kam und ging, mal wurde sie von Angst erfüllt, dann wieder von Hass und dann von etwas, von dem sie loskommen musste, und schließlich empfand sie nur noch große Sehnsucht. Die Dunkelheit drückte ihr derart
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