Abteil Nr. 6
auf den Kopf, dass sie durchsichtig wurde. Endlich verlor die hartherzige Nacht ihre Bedeutung und ging in schwachen Morgenschein über.
Ungeduldig saß die junge Frau im Hotelfoyer auf dem Sofa und wartete auf den Reiseführer. Sie wollte mit jemandem über das, was am Vorabend passiert war, reden. Dann hörte sie zunächst vom Fahrstuhl her ein merkwürdiges Stöhnen, und als sie sich umdrehte, sah sie die drei Mitarbeiter des Geheimdienstes. Sie schleiften die zwei bewusstlos geschlagenen, brutal verunstalteten Gäste der jungen Frau durch das Foyer zum Ausgang und von da zu einem Lada, der draußen wartete. Blut und Schlacke hinterließen Flecken auf dem von Baustellenstaub überzogenen weißen Marmorboden. Einer der drei glotzte die junge Frau wütend an, der Zweite grinste, der Dritte schaute nicht einmal zu ihr. Die Frau an der Rezeption blätterte in ihren Unterlagen und sah nichts.
Nachdem der gelbe Lada im hellen mongolischen Morgen verschwunden war, kam eine Mongolenoma in einer großen schwarzen Strickjacke mit einem lettischen Zinkeimer aus dem Keller herauf. Sie wischte den Boden und ging anschließend wieder in den Keller hinunter.
Beim Frühstück erzählte die junge Frau dem Reiseführer von ihren Besuchern und dass sie abgeholt worden waren. Sie berichtete auch, was sie gerade gesehen hatte.
Als sie fertig war, sagte der Reiseführer mit einem trockenen Lächeln auf den Lippen, er wolle kein zweites Mal davon hören.
Sie verbrachten einen schweigsamen Tag im naturkundlichen Museum.
Am nächsten Morgen spaziert die junge Frau im Gefolge des Reiseführers durch die Stadt und dachte an Irina, aber Irina schien ihr entglitten zu sein, in weite Ferne, irgendwohin. Vor dem Gebäude der staatlichen Telefongesellschaft sagte die junge Frau zum Reiseführer, sie wolle nach Moskau telefonieren. Er versuchte, sie daran zu hindern, aber sie ging hinein und verlangte in ihrer Aufregung ein Zehn-Minuten-Gespräch. Sie warteten sechs Stunden, die junge Frau und der wütend auf den Boden starrende Reiseführer, bis die Telefonvermittlerin mitteilte, Irina melde sich nicht. Natürlich nicht, denn Irina und Mitka waren noch im Süden.
In den frühen Morgenstunden kam heftiger Wind auf. Er riss am Blechdach des Hotels und schleuderte Benzinfässer über die menschenleeren, von Eis überzogenen Straßen. Das Hotel erzitterte unter den Schlägen des Windes, es knarrte, bröckelte, schien einzustürzen. Die junge Frau fror. Der Sturm brachte als Begleitung aus der Wüste sandiges Schneegestöber mit, das waagrecht gegen das Hotelfenster peitschte und schmolz, sobald es an der wärmeren Scheibe haften blieb. Die junge Frau stellte sich vor, wie der Wind die Schrauben aufdrehte, wie die Muttern herunterfielen und die Nägel abbrachen, wie der Beton bröckelte und das ganze Gebäude zu einem Haufen Sand zusammenfiel.
Am nächsten Morgen teilte die junge Frau der Hotelangestellten mit, sie sei krank und werde sich den Tag über in ihrem Zimmer ausruhen. Den Reiseführer brauche sie nicht.
Dann stand sie in ihrem Zimmer am Fenster. Gleichgültig zog die Sonne von Ost nach West. Gegen Abend fiel sie hinter einem Jurtendorf herab, und düstere, schwere Finsternis legte sich über die Stadt. So wurde der Tag vom Abend abgelöst, der Abend von der Nacht. Die junge Frau sah zu, wie ein künstlicher Mond, der an den echten Mond erinnerte, hysterisch hell auf die weißen Dächer der Jurten schien. Sie hatte Sehnsucht nach den Moskauer Pappeln im Sommer.
Sie beschloss, ihren Reisegefährten zu suchen, denn sonst fiel ihr nichts ein. Sie rannte durch die klare, kalte Nacht und sah sich immer wieder um. Grünes Scheinwerferlicht fiel auf das Hotel, und graue Wolken flitzten nach Norden. Sie stürzte in den ersten Bus und fuhr aus der Stadt hinaus. In der Dunkelheit glommen die Lichter ferner Jurtendörfer. Der Bus kam an einer farblosen, unmittelbar neben der Straße schwankend dahinziehenden Gruppe von Leuten vorbei. Manche trugen Säcke auf dem Rücken, manche hatten die Hände voller Kolli und anderer Lasten.
Der Bus bog zu einem Baustellengelände ab, wo halb fertige sowjettypische Wohnblocks in die Höhe ragten. Mit offenen Bäuchen standen sie inmitten der aufgerissenen, zerwühlten Erde. Überall sah man Gerüste, Balken, Treppen, Etagen, Dächer, Stege, Übergänge. Die Lichter im Barackendorf der Bauarbeiter begrüßten schwächlich die heraufziehende Nacht. Vor dem Bauzaun waren ein alter Lastwagen und eine
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