Abteil Nr. 6
verschlang.
Eines Abends stand der Mann vor der Tür. Er roch nach Kumys und Schafsfett. Die junge Frau schluchzte. Als sie aus dem Hotel traten, wurden sie vom steinharten, schweren Südwestwind mitgerissen und auf eine Jurtensiedlung zugetrieben. Der Mann ergriff die Schulter der jungen Frau und zog sie väterlich an sich. Sie erzählte ihm, was passiert war. Sie weinte, aber der Wind trocknete ihre Tränen so schnell, dass der Mann sie nicht sah. Er hörte ihr konzentriert zu, und als sie am Ende ihrer Geschichte angelangt war, brach er in hemmungsloses Gelächter aus.
»Du bist wirklich dumm. So eine wie dich habe ich noch nie gesehen, obwohl mir schon alles Mögliche über den Weg gelaufen ist. Mach dir keine Sorgen. Alles wird sich finden.«
Er schluckte sein Lachen herunter, kratzte sich eine Weile am Hinterkopf und knurrte:
»Ich frage mich, was die Kerle getrieben haben, dass Gott sie so bestraft. Hier kennt das Gesetz gerade mal den Totschlag, und das Bußgeld dafür ist so hoch wie der Preis für eine Flasche schwarzen Wodka. Ziemliche Schlitzohren, wie?«
Sie gingen schweigend weiter. Hinter dem Stadtviertel stob eine Windbö hervor. Die junge Frau schluckte den Wind und fing an zu husten.
»Wenn die Dinge nicht besser werden, werden sie schlechter, und vom Schlechten ist es nicht weit bis zum Guten. Sorge dich nicht, mein Mädchen, das kleine Unglück wird sich in ein kleines Glück wenden. Die stinkigen Faulpelze haben bekommen, was sie verdienen. Ein normaler Mongole geht nicht in ein Hotel, um sich mit Touristen aus dem Westen zu treffen, das ist so viel wie Selbstmord.«
Er sah die junge Frau mitleidig an.
»Ich hatte hier mal eine Nutte, die ich sehr gern mochte. Die wiederum hatte einen sechsjährigen Jungen, und der guckte mich immer an, als wollte er mich umbringen. Jedes Mal wenn ich die Hure bumste, hatte ich Angst, dass der Junge kommt und mir einen finnischen Stift in den Schädel rammt. Ich kaufte ihm in Moskau Bauklötze, mit denen man den ganzen Roten Platz aufbauen konnte, mit Lenin-Mausoleum und Kirche. Als ich sie dem Jungen gab, schmiss er sie sofort in die Ecke und starrte mich mit seinem Mörderblick an. Aber später, als ich wieder mal zum Ficken kam, sagte die Hure, ich soll mal unterm Bett nachsehen. Da war der Rote Platz in seiner ganzen Pracht wie der Schwanz von Berija.«
Die junge Frau hüpfte über den Pferdemist vor einem Getränkeautomaten und lachte. Hinter einer flachen Lagerhalle lag ein zugeschneiter Vergnügungspark, in dem ein altes, müdes Riesenrad erstarrt war. Der Mann rannte darauf zu. Die junge Frau sah, wie er die Tür eines schiefen Kabäuschens aufriss. Und dann flackerten wie von Zauberhand matte Lichtfetzen in den Glühlampen, die um den Park herumliefen, auf, und das Riesenrad setzte sich knarrend in Bewegung, zuerst langsam scheppernd, dann immer schneller wimmernd. Die junge Frau blickte abwechselnd auf den Mann und auf das Riesenrad und dann auf die seltsame Stadt und ihre schwarz gewordenen, verlassenen und auf den Brachflächen hingeworfenen, vom Wind beleckten Jurtenkadaver. Der schmelzende Schnee roch nach Frühling. Unter einem umgekippten Ölfass breitete sich eine Pfütze schwarzer, fettiger Flüssigkeit aus. Die junge Frau dachte an Moskau, an die Malaja Nikitskaja, die sie mit Irina einmal entlanggegangen war, an die gelblichen Lichter dort, die im Nebel schwammen.
Als die Dämmerung sich über dem Vergnügungspark zu blauem Dunst verdichtete, begleitete der Mann die junge Frau zum Hotel. Schon von Weitem sahen sie eine riesige ölige Schlammpfütze, auf deren Oberfläche der rote Ring des kalten Monds leuchtete. Am Rand der Pfütze spielten kleine Kinder, obwohl es schon Nacht war. Ein kaum vierjähriges Mädchen mit geschwollenen Beinen beförderte mithilfe eines Stocks Öl in eine kaputte Flasche. Ein Junge, der jünger war als sie, watete ohne Schuhe durch die Pfütze und bespritzte sich mit Öl.
Der Hoteleingang war abgeschlossen. Der Mann und die junge Frau standen mit dem Rücken zum Wind da und warteten. Auf den Wasserlachen im Schneematsch glänzte das schwache Mondlicht, der Wind rauschte gleichgültig. Schließlich kam eine Hotelangestellte und sperrte auf. Der Mann folgte ihr zur Rezeption und reichte ihr einen Fünfundzwanzig-Rubel-Schein. Sie lächelte schüchtern, und der Mann zwinkerte der jungen Frau zu, bevor er ging.
Sie stieg die Treppe hinauf und ließ sich in ihrem Zimmer glücklich auf die Couch fallen. Sie
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