Abteil Nr. 6
zusammen die Sehenswürdigkeiten von Ulan-Bator und die Geschichte unseres Landes kennenlernen. Dabei bleiben wir innerhalb der Stadtgrenzen. Für alles, was Sie tun, bin ich verantwortlich.«
Die Dollars steckte er ein.
Draußen war es frühlingshaft warm, obwohl eine dicke Wolkenschicht den Himmel bedeckte, es herrschte Windstille, und es regnete nicht. Sie gingen ins historische Museum, der Reiseführer stets zwei Schritte voraus. Im Museum bewegte sich die junge Frau in Filzpantoffeln über den glatt gebohnerten Fußboden. Der Reiseführer begab sich von einer Vitrine zur anderen und sagte mit monotoner Stimme auswendig gelernte Verse auf. Mitten in einem Vers erhob er die Stimme:
»Die mongolische Ära schuf die Grundlage für das Erblühen der heutigen Sowjetunion. Vieles haben sie uns zu verdanken. Wir Mongolen haben Russland im Jahr 1242 erobert, und die Besatzungszeit dauerte zweihundertvierzig Jahre. Wir schufen in Russland eine funktionierende Zentralmacht sowie ein effektives Rekrutierungs- und Steuersystem. Wir haben in Russland all die Herrschaftsinstitutionen errichtet, die bis auf den heutigen Tag in der Sowjetunion wirken. Wir schufen die Bürokratie, deren Aufgabe darin besteht, der Macht zu dienen, nicht dem Volk. Wir brachen den Russen so gründlich das moralische Rückgrat, dass sie sich davon noch immer nicht erholt haben. Wir hämmerten den Russen die Atmosphäre des Misstrauens in den harten Schädel. Wir brachten Iwan dem Schrecklichen bei, was dieser an Stalin weitergab, nämlich dass die Aufgabe des Individuums darin besteht, sich der Gruppe zu unterwerfen. Macht der Einzelne einen Fehler, wird die ganze Gruppe zur Rechenschaft gezogen. Das ist die effektivste Herrschaftsform der Welt. Vor der Eroberung durch die Mongolen wussten die Russen nicht einmal zu feiern, sondern suhlten sich nur besoffen im Schweinemist. Sie haben von uns gelernt, wie man Freude im Leben findet. Die einzigen Erfindungen der Russen sind endlose Faulheit, Schlitzohrigkeit und skrupelloses Lügen. Um das Steuersystem zu schaffen, benötigten wir eine Schar chinesischer Volkszähler und Steuerfachleute, deren Effektivität und Kenntnisse schon zur damaligen historischen Zeit berühmt waren. Weil Russland dünn besiedeltes Gebiet war, setzten wir das Modell der indirekten Verwaltung ein. Bei diesem Modell trieben die russischen Fürsten die Steuern für die mongolischen Khans ein, sie waren also unsere Handlanger. Später machte sich das Moskauer Großherzogtum alle unsere Herrschaftsbräuche und Prinzipien, so wie sie waren, zu eigen. Wir haben Russland vor der frechen Invasion der westlichen Kultur gerettet.«
Zur Mittagessenszeit gingen sie hintereinander ins Hotel, und nach der Mahlzeit kehrten sie ins historische Museum zurück. Zum Abendessen machten sie sich wieder auf den Weg zum Hotel, betraten das Restaurant, setzten sich an einem Tisch gegenüber und redeten kein Wort. Nach drei Gängen stand der Reiseführer auf.
»Die Türen des Hotels schließen um acht. Danach kommt keiner mehr hinaus oder herein. Halten Sie sich an unsere Regeln! Es ist zu Ihrem Besten. Sie sollten berücksichtigen, dass unser Gesetz den Begriff Vergewaltigung nicht kennt.«
An der Ecke des Hotels schaute ein scheuer, schreckhafter Hund mit schmierigem Fell die junge Frau mit ängstlichen Augen an. Sie wurde immer trauriger. Die Kälte des umliegenden leeren Landes, das Elend der feuchten Winde und Wüstennächte drangen ihr unter die Haut. Die Menschen schlotterten. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie zwei Geschäfte im Sowjetstil, das eine war ein Gastronom, das andere eine Papierhandlung. Am Türpfosten des Gastronoms hing ein Lautsprecher. Er spie einen Sowjetschlager aus. Nahezu leere Regale glotzten aus dem Schaufenster. Vor dem Laden stand eine Kühlwanne, in der ein Brikett gefrorener Fisch und zwei Plastiktüten Milch lagen. In der Papierhandlung wurden neben Schreibwaren russisches Schwarzbrot, Schaffleischpiroggen, Essigpickels und Groppen in Tomatensoße verkauft. Hinter der Papierhandlung befand sich die Post. Dort hingen Karten an den Wänden, auf denen die Wanderrouten der Schafe eingezeichnet waren. Die junge Frau schrieb ein paar Postkarten und kaufte dafür zu viele Briefmarken, auf denen die Industrie der Mongolei dargestellt wurde.
Auf der Hauptstraße wich sie Schlammpfützen, verwilderten Autowracks, durchgedrehten dicken, alten Sowjetautos und Pferden, die kurz vor dem Zerfall befindliche Wagen
Weitere Kostenlose Bücher