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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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zerfetzte Planierraupe umgekippt. Die rötlichen Kreise der Lichtmasten zeichneten zitternde Ellipsen an den schwarzen Himmel, an den Baugerüsten war die gelbliche Abendbeleuchtung eingeschaltet worden.
    Die junge Frau ging eine unfertige Straße entlang. Die Spuren der Lastwagen standen voller wässrigem Schlick. Am Tor der Aufsichtsbaracke schaukelten Lampions an quietschenden Drähten, als Wachhund stand ein Komsomolez-Bagger davor, auf dessen Dach eine einbeinige Lapplandmeise hüpfte. Lange hämmerte die junge Frau an die Tür der Baracke, bevor ein verschlafener Pförtner öffnete. Muffige Hitze schlug der Besucherin entgegen. Der Pförtner fragte sie streng, was sie wolle, musterte sie dann mit schief gelegtem Kopf und grinste.
    »Ich habe mich schon immer gefragt, was die jungen Frauen von so einem Hallodri wollen. Je schlimmer der Kerl, desto interessanter. Ihr Frauen habt überhaupt keinen Selbsterhaltungstrieb. Wadim Nikolajewitsch Iwanow wohnt in der Baracke da drüben, aber da kannst du nicht rein. Gib mir deine Nummer, dann ruft er dich an, wenn er will.«
    Sie gab ihm die Adresse des Hotels und ihre Zimmernummer.
    »Denk dran, ich hab dich gewarnt.«
    Sie kehrte ins Hotel zurück, vorbei an Jurtenslums, die von ekelerregenden Gerüchen vergiftet waren, durch rötliche nächtliche Finsternis und unangenehm kalte Stille. Alle Sterne des Orion leuchteten direkt über ihrem Kopf, und der schneeige Mond stieg hinter einer Betonmauer langsam zum Himmel empor. Viel später erschien im Osten das taube Morgengrauen und strahlte die tief hängenden Wolken an. Einige Schneeflocken schwebten ihr aufs erhitzte Gesicht.
    Bevor sie einschlief, hörte sie den Morgenablauf der erwachenden Stadt. Sie dachte an den bereiften Wald Sibiriens, der seine Kraft verloren hatte und wie eine Mauer an die Felderebene grenzte. Sie dachte an die gefrorenen Grenzgebiete im Schneegestöber, wo gleichmütig die Rentierherden wanderten, auf der faulen Suche nach Nahrung, an die undurchdringlichen Bruchwälder, an die minimalen Höhenzüge, an die unbewohnten Gegenden, an das Schneetreiben, an Mückenschwärme und an die reglose, neblige Feuchtigkeit im Herbst, die die kleinen Dörfer einwickelte.
    Der Mann rief nicht an.
    An den nächsten Tagen besuchte die junge Frau mit dem Reiseführer das Mausoleum von Suche-Bator, den Winterpalast von Bogd Khan und das Lenin-Denkmal. Nachdem sie alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert hatten, unternahm sie noch einen Versuch und erinnerte den Reiseführer an die Felsinschriften. Er lachte amüsiert, und sie verstand, dass es sinnlos war, darüber zu sprechen. Vom Fenster ihres Hotelzimmers aus betrachtete sie die stillen Wolken, die gemächlich nach Osten krochen.
    Als Mitka nach acht Monaten Psychosemedikation nach Hause kam, hatte die junge Frau das Gefühl, er ahnte alles. Irina war es gelungen, über ihre Arbeitsstelle für sich und Mitka einen Platz in einem gesamtsowjetischen Sanatorium auf der Krim zu besorgen. Dort sollten sie sich ausruhen, und falls Mitkas Verstand schärfer als zuvor zurückkäme, würde alles wieder so sein können wie früher. Darauf hatte Irina die junge Frau vorbereitet, darauf, dass alles so werden würde, als wäre in Mitkas Abwesenheit nichts geschehen.
    Die Morgen gingen kriechend in die Tage über, die Tage in die Abende, die tiefen Nächte füllten den Himmel und die Erde und waren lang wie das künftige Leben, voller Rauschen, Heizkörpersirren, der kalten Trockenheit der Bettwäsche und dem leisen Rasseln des sandigen Schnees. Die junge Frau ging im Zimmer umher, blickte aus dem Fenster auf die schlafende Stadt, in deren Dunkelheit der reißende, fettige Wind ertrank. Sie starrte auf die Nächte, in denen am Himmel so bleiche, große Sterne erschienen, dass man sie hätte berühren können. Sie wartete auf die Morgen, an denen die Sterne noch einen Moment unsicher funkelten und dann verschwanden. Sie sah den langsamen Auf- und Untergängen der verzweifelten Sonne zu, sie sah das flüchtige Licht der fallenden Sterne und verfluchte sich. Sie war müde und leer. Weit weg von allem. Sogar von sich selbst.
    Allmählich akzeptierte sie ihre Einsamkeit und wartete nicht mehr auf den Anruf des Mannes. Inzwischen konnte sie die anhaltende Beklemmung, die Druck und Schmerz in ihrer Brust verursachte, schon ein wenig besser ertragen. Sie hatte gelernt, etwas gelassener auf ihr angespanntes Atmen zu horchen und auf ihr unruhig hämmerndes Herz, das krampfhaft ihr Blut

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