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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Lenkrad, worauf der Wolga von der glitschigen Böschung aufs ebene Gelände geschleudert wurde. Im fetten, ins Armaturenbrett integrierten Röhrenradio sang Fjodor Schaljapin.
    Bald führte die Straße einen Berg hinauf, wurde schmal und steil, und der Wolga ruckelte. Die Sonne, die feuerrot am Rand der Sandebene schaukelte, begann zu sinken, rosa Dunst lag über der Wüste. Eulen tauchten auf, hockten mitten auf der Straße und flatterten davon, kurz bevor der Wolga sie hätte zermalmen können. Ab und zu blieb der Wagen stehen, dann setzte sich die junge Frau ans Lenkrad, und die Männer schoben. Hin und wieder hielten sie am Straßenrand an und warteten, bis der Motor abgekühlt war.
    Der Anstieg war steil, und der einfache, aber starke Motor des Wolga schaffte nicht mehr als einige Meter auf einmal. Zeitweise gingen der Mann und die junge Frau neben dem alten Auto her. Ganz vorsichtig schluckte die junge Frau die dünne Bergluft. Weit hinter den Bergen stieg die blaue, melancholische, vom dunstigen Mond erleuchtete Nacht auf und breitete sich ruhig um die Reisenden aus. Gegen Mitternacht fing der Wolga zuerst zu wimmern und dann zu heulen an.
    »Die schreit wie eine Sau«, zischte Gafur beleidigt, bevor der Motor endgültig ausging.
    Gafur machte die Haube auf. Auf der linken Seite des geräumigen Motorraums grinsten ihn die großen Waben des glühend heißen Kühlers an, der Grill hing traurig herab und schleifte fast auf dem Boden. Lange starrten die Männer auf den Motor, aber keiner von beiden traut sich, ihn zu berühren.
    Misstrauisch blickte Gafur abwechselnd auf den Motor und auf den Mann. Dieser setzte sich auf einen großen Stein, folgte mit dem Blick einem weit oben schwebenden Greifvogel. Auf der Höhe des nächstgelegenen Berggipfels knisterte die unruhige Milchstraße. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, rauchte langsam, blies den Qualm ruhig aus der Lunge.
    »Einmal war ich so wütend auf Katinka, dass ich mit dem Vorschlaghammer ihre Pulsator-Waschmaschine kaputt schlug. Sie packte ihre Sachen und haute mit dem Jungen zu ihrer Mutter nach Leningrad ab. Dort wäre sie wahrscheinlich geblieben, aber ich holte sie drei Monate später zurück. Ein Mann kommt ohne Frau nicht aus. Auch wenn er immer eine Fotze findet, so braucht ein Mann doch seine Suppenköchin.«
    Wenn er die Hände an die Schläfen legte, sah er aus wie eine sitzende Kakerlake.
    Der zunehmende Mond flackerte auf dem Berghang, still und tot lag die mit Schnee durchmischte Sandlandschaft da.
    Behutsam schoben sie das Auto an den Straßenrand, und Gafur streichelte noch kurz die kranken Seitenbleche. Er summte zufrieden vor sich hin, offenbar hatte er den Streit mit seinem weiblichen Wolga beigelegt. Der Mann ließ sich auf die Rückbank fallen und zog sich die Mütze über die Augen. Die junge Frau lehnte sich an einen kolossalen Felsbrocken. Der Mond und die grellen Sterne erleuchteten die Umgebung, beiderseits der schmalen Gebirgsstraße drängte der nackte Fels hervor, in den Schluchten kräuselte sich fahler Nebel. Unten im Tal lagen ein paar Yaks, über den Bergen wellte sich, von Schneewolken bedeckt, der trübe, ausgelaugte Himmel.
    Die junge Frau berührte den Fels und spürte eine Rille. Sie fühlte genauer. Die Lichter eines vorbeiwackelnden Lastwagens wischten über den Stein. Er war mit wilden Renen und Böcken in verschiedenen Positionen bemalt. Die junge Frau wartete den nächsten Lastwagen und dessen Lichtpeitsche ab. Langsam fuhr sie mit dem Finger über die Oberfläche des Steins. Um die Tiere herum waren Zeichen hineingehauen worden. Namenszeichen, Uigurenzeichen, Runen. Sie legte die Wange an den Stein und küsste ihn, und Tränen liefen ihr über das Gesicht.
    Gafur kam zu ihr. Er zog eine Kasbek aus der Tasche und fing an zu rauchen. Unwirscher Schlamm klatschte in den Pfützen, wenn die anderthalb Tonnen schweren, vom Dreck zerfressenen, von Steinen und Schlaglöchern ramponierten, wild winselnden Lastwagen in einer fast nicht abreißenden Kette an ihnen vorbeirumpelten und tiefe Furchen in der weichen Gebirgsstraße hinterließen. Sie glichen Schluchten im glatten, quellenden Schlick. Heimlich streichelte die junge Frau den Stein. Gafur rauchte seine Zigarette zu Ende und warf den Stummel auf die Erde.
    »Es war ein warmer Sommermorgen in Kasan. Ich saß vor unserem Wohnblock auf der Bank und rauchte Gras. Dabei betrachtete ich die glitzernden, wie Flügel geformten Wolken, die über den Himmel glitten, und

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