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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Hunderten herum. Die Winterstürme hatten den Schnee vereisen lassen.
    » Golod y cholod «, murmelte der Mann traurig. »Wir sind am Ziel, mein Mädchen! In mehr als drei Kilometer Höhe. In einer geheimen, stinkenden Miniaturwelt. Hier pisst man nicht in fließendes Wasser. Wenn du pisst, stirbst du.«
    Gafur fuhr den Wagen hinter eine Jurte und stellte den Motor ab. Die Kinder des Dorfs bildeten einen Ring um den Wolga und starrten die junge Frau misstrauisch und ängstlich an.
    Sie folgte mit dem Blick einem roten Stück Stoff, das vom Wind über den Hang getrieben wurde. Es blieb kurz an einem Pinienast, dann an einem spitzen Stein hängen, verschwand in einer geschützten Senke und setzte seinen Weg fort, hinauf in unbewohnte, von Menschen unerreichbare, wilde, felsige Höhen. Die furchtsamen, halb scheuen, unruhig zerrenden gobischen Pferde schnaubten neben den Jurten. Sie hatten kleine Köpfe, schmale Ohren und grazile Beine sowie geflochtene Lederhalfter, an die kurze Stricke gebunden waren. Diese wiederum waren an einer langen Wäscheleine befestigt. Dadurch konnte sich jedes Pferd bewegen wie ein Hund an einer Trosse. Neben dem Eingang einer Jurte steckte ein Holzpflock in der Erde, auf dem ein ausgewachsener Gerfalke saß. Er war mit einem Bein am Pflock festgebunden.
    Beiderseits des Dorfs ragten Felsen mit Schneehauben auf, die goldenen Berggipfel waren nah, die Luft roch nach kräftigen Kräutern, im Fluss plätscherte das Wasser. In der Ferne zogen Pferde umher. Eines der Tiere war so weiß, dass es fast verschwand, wenn es durch den Schnee galoppierte. Hinter den Pferden lag eine Herde Ziegen in der sanften Sonne.
    Die junge Frau hatte Kopfschmerzen, und ihr war schlecht. Der Mann gab ihr eine Tablette. Aus einer Jurte kamen einige neugierige Frauen mit scharfen Bewegungen, hinter dem Zelt tauchte ein alter Mann mit schlaffem gelbem Gesicht, schwarzen Augen und Brauen und grünen Flecken auf der Stirn auf. Er begrüßte den Mann zwanglos. Die junge Frau begrüßte er nicht, sondern sah sie nur lange an. Später deutete er mit der Hand auf die Jurte: Die junge Frau solle zum Ausruhen hineingebracht werden.
    »Nicht auf die Schwelle treten, wenn du hineingehst. Wenn du das tust, hacken sie dir den Kopf ab«, sagte der Mann und knackte mit den Fingern.
    Die mongolischen Frauen gingen voran und öffneten die Tür. Sie war rot gestrichen und quietschte erbärmlich. Vorsichtig trat die junge Frau ein. Mitten in der Jurte qualmte ein kleines Feuer auf der bloßen Erde, an dem eine alte und eine junge Frau hantierten. Als sie durch den Rauchvorhang hindurch die Besucherin bemerkten, bedeuteten sie ihr, in der Nähe des Feuers Platz zu nehmen. Die ältere Frau reichte ihr eine Schüssel mit weißem Tee.
    Gleich darauf breitete die jüngere Frau eine geblümte Matratze auf dem Boden aus, und zwar am Gästeplatz. Die Ältere legte eine ordentlich gefaltete bunte Wattedecke sowie ein großes Kissen auf die Matratze. Zum Zudecken bekam die Besucherin ein dickes Lammfell. Sie betrachtete die mit Blumen gemusterten Stoffe an den Wänden, die kunstvoll geknüpften Teppiche auf dem Boden, die handbemalten Geschirrstücke und die kleinen Stoffpuppen, die an der Decke hingen und auf dem blauen, chinesischen Schrank lagen, und bald schlief sie ein.
    Sie erwachte vom schrecklichen Schrei einer Singdrossel. Von ihrer Matratze aus sah sie, wie der Mann und Gafur mit den Jurtenbewohnern am Lammfleisch nagten, ohne zu schlingen, ohne großen Genuss, und dazu Kumys tranken. Als sie nach draußen ging, achtete sie darauf, die Schwelle nicht zu betreten. Die leichtgewichtige Stille der Nacht empfing sie, denn die knausrige Sonne war inzwischen hinter den Goldenen Bergen untergegangen, und nach und nach blitzten am Himmel Tausende trockene, unruhige Sterne auf. Sie wischten über das blaue Universum, die Milchstraße wand sich ruhelos über den Bergen und Jurten, die Galaxien schwirrten. Die junge Frau setzte sich auf einen Stein und berührte dessen kalte Oberfläche, aber der Stein blieb stumm. Sie beobachtete, wie die Singdrossel den festgebundenen Gerfalken ärgerte.
    Am nächsten Morgen schmerzten ihre Augen wieder, der Kopf tat ihr weh, und in den Ohren rauschte ein unerträglicher kosmischer Lärm. Sie ließ die Schultern sinken und den Kopf hängen.
    Die eishelle Sonne kannte keine Gnade. Im Sommer trocknete sie die Regentropfen, noch bevor sie die Erde erreichten. Brennender Frostwind strömte von Norden heran und

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