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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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dachte, bald schwebe ich über ihnen. Da gab es einen furchtbaren Knall, und eine Druckwelle schleuderte mich meterweit davon. Als ich Stunden später den Kopf hob, sah ich, dass der ganze Wohnblock eingestürzt war. Rauch und grauer Staub bedeckten alles, und als ich zum Himmel blickte, sah ich, dass die schwarze, sternklare Augustnacht angebrochen war.«
    Die junge Frau hörte zu, so wie sie es sich angewöhnt hatte.
    »Ich bin ein freier Mann, ich lebe nur im Hier und Jetzt. Ich konzentriere mich ausschließlich auf das, was ich mag, alles andere kann mir gestohlen bleiben. Ich sehe von außen zu, ich lebe wie ein Tier. So einer bin ich. Wenn dem Fräulein also der Sinn nach einer erstklassigen, aus afghanischem Opium mit solider Handwerkskunst veredelten Heroinspritze steht, dann kann es eine haben. Der Onkel hat nämlich eine in der Tasche.«
    Ein runde giftgrüne Wolke segelte allein über den Himmel. Bald schob sie sich vor den Mond und erstickte sein flackerndes Licht. Die Felsinschrift brannte unter der Hand der jungen Frau. Gafur zog einen Löffel und einen kleinen Beutel mit weißem Pulver aus der Tasche und bereitete sich seinen Schuss zu. Dann schob er den weiten Schlag seiner Jeans nach oben und stach die Spritze in den Oberschenkel, offenbar an einer vertrauten Stelle.
    »Jetzt sickert das Gute in jede Ader und in jede Gehirnzelle«, flüsterte Gafur mit matter Stimme.
    Am Himmel erschien ein neuer Stern, ein Meteor plumpste herunter, Goldregen sprühte am pechschwarzen Firmament, die Planeten strahlten. Noch einmal fuhr die junge Frau mit dem Finger über die ferne Vergangenheit und spürte dabei die Lebenskraft in ihrem Inneren. Dann gingen sie zum Wagen. Die Luft war nun trüb und erinnerte an flüssigen Papierklebstoff. Die junge Frau setzte sich auf die Rückbank, der Mann nach vorne und Gafur ans Steuer. Nasser Schmutz spritzte auf die Windschutzscheibe, vom Himmel fiel nun so etwas wie weiße Augenbutter und überzog zuerst einen Schmutzplacken und dann die ganze Windschutzscheibe. Sie litten zu dritt im kalten Auto, aber nach einer Weile brachte der Mann eine große grüne Flasche zum Vorschein. Sie enthielt verschärften Kumys. Unter dem Vordersitz holte er ein langes Weißbrot und drei schmutzige Gläser heraus.
    »Diese ehemaligen kühnen Pferdehirten hier waren vor zwanzig Jahren die härtesten Arbeiter von Chabarowsk und Nowosibirsk. Wir Russen kamen erst weit hinter ihnen. Jetzt ist es umgekehrt. Gafur hängt an der Spritze und würde notfalls Blut aus seinen Adern verkaufen, um seine tägliche Dosis zu bekommen. Mein liebes Heimatland, liebe Genossen, wird von Jahr zu Jahr schöner, aber es blüht nie auf. Der Winter endet, der Sommer kommt, trinken wir auf die Freundschaft mit und ohne Spritze!«
    Sobald sich durch die trübe Windschutzscheibe ein Hauch von Licht drückte, schreckte die junge Frau aus dem Halbschlaf hoch. Vorsichtig öffnete sie die maunzende Tür und schlüpfte hinaus. Ein warmer Windwirbel wischte ihr übers schläfrige Gesicht und brachte erdige Frühjahrsdüfte mit. Hoch am Himmel hüpfte munter ein weißer Dinosaurier.
    Gafur schüttete Öl in den Motor, in der Hoffnung, er werde ihm verzeihen und ihn wieder lieben. Tatsächlich sprang der Motor gut gelaunt an. Die hellen Sonnenstrahlen des frühen Morgens sägten Lücken in den Himmel. Der Mann setzte die Sonnenbrille auf, während Gafur unruhig das Lenkrad umklammerte, obwohl er bereits seine Morgenspritze intus hatte. Er trat das Gaspedal durch, und mit einem Satz war der Wolga auf der Straße.
    Wenig später warf die Sonne erste Strahlen über die klamme, schlafende Sandwüste. Dann flimmerte sie auch schon und ließ die von faserigem Schnee bedeckten Berge golden aufblitzen. Die Strahlen liefen über die Berghänge, die steile, schmale Straße und die vereisten Schneewehen, auf denen der Pulverschnee glitzerte. Für eine Weile stand alles still, dann explodierte der verschlafene Himmel, und tischtennisballgroße Hagelkörner schossen aus der Höhe herab.
    Nach einer krummen Kurve kamen drei Jurten zum Vorschein. Sie standen in der Nähe eines flachen, aber breiten Flusses, und Rauchschlangen krochen aus ihren Dächern dem Geschützfeuer des Himmels entgegen. Wohin die junge Frau auch blickte, sah sie tote, gefrorene Tiere liegen. Ein mongolischer Halbesel war ballartig aufgequollen, einem Yak waren die Augen ausgehackt worden, Kadaver von Schafen mit Flecken auf der Stirn und zierliche Ziegen lagen zu

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