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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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schleppte eine tote Alpenkrähe und einen zerrissenen Leinensack mit sich. Vom Nachtfrost geschaffener Reif wuchs an den Jurtenwänden empor. Schwarze, dünne, scharfe Rauchstreifen schwebten schläfrig in der Luft.
    Die junge Frau stand reglos da. Aus dem Osten kam eine Helligkeit, die in die Augen stach, im Westen wogte grauer, trüber, geleeartiger Nebel, am unteren Rand des nördlichen Himmels hing ein blutroter Schweifstern. Er sah aus wie ein Glanzbild aus den Dreißigerjahren, das man auf ein Blatt mit dunkelblauen Tintenflecken geklebt hatte. Die junge Frau bestaunte die Kranichherde, die in einer Front über die Ebene schritt und tote Heuschrecken vom Herbst aufpickte. Sie sah fünf schwarze Ochsen mit langem Fell, die mit den Hufen nach Gras unter dem Eis scharrten. Sie hörte die Ziegen blöken und spazierte zu einem Gebüsch, dessen gefrorene Zweige traurig herabhingen. Die Frauen molken die Ziegen.
    Wie aus dem Nichts tauchte Gafur auf, munter nach seinem Schuss, hüpfte eine Zeit lang in seinen spitzen, geckenhaften Schuhen auf dem harten Schnee und folgte dann dem Mongolen zu den Pferden. Sie banden zwei widerspenstige Tiere los und führten sie vor die Jurte. Die Männer wollten die halb wilde Schafherde suchen, die über Nacht verschwunden war.
    Die junge Frau ging an den Bach. Von dort konnte man das Pferdegatter sehen, das nun leer war. Ein kleiner Mischlingshund folgte ihr. Weißer Dunst stieg aus seinem Maul auf. Er blieb stehen, sah sie mit grünen, bitteren Augen an und kam dann näher, legte ihr die Schnauze aufs Knie, seufzte tief und ging weiter. Am Berghang in der Ferne zog ein Kamel mit dichtem Fell einen dürftigen Karren mit langer Deichsel. Der Mann bemerkte die junge Frau am Bach und ging zu ihr.
    »Du siehst nicht über deine Nase hinaus, auch wenn du dir noch so viel Mühe gibst. Aber du darfst auch in den schwärzesten Stunden nicht vergessen, dass es hinter dem toten Horizont immer Leben gibt. Als Miska wegging, beneidete ich ihn. Er durfte weg, und ich musste bleiben. Aber jetzt …«
    Der Mann roch aus der Nähe nach Schweiß. Ein kräftiger Sonnenstrahl wurde vom Berghang reflektiert, wo in der Nacht Pulverschnee gefallen war. Über der reinweißen Landschaft lag eine leichte Traurigkeit wie eine niedrige Wolke. Der Mann kratzte sich konzentriert den Hinterkopf. Vom Himmel kam frühlingshafte Wärme.
    »Weißt du, warum der Mensch länger lebt als die meisten Tiere? Das kommt daher, dass die Tiere nach ihrem Instinkt leben und keine Fehler machen. Wir Menschen hingegen verlassen uns auf den Verstand und bauen ständig Mist. Unser halbes Leben geht für Schnitzer drauf, ein anderer Teil dafür, dass wir unsere größten Dummheiten erkennen, und der Rest für den Versuch zu retten, was zu retten ist. Für diesen Zirkus benötigen wir all die vielen Lebensjahre. Ich wurde ’42 geboren. Mein Vater, den ich mir nicht aussuchen konnte, zeugte mich auf dem Weg vom Arbeitslager an die Front. Meine Mutter war eine boshafte, verbitterte Frau. Sie hasste meinen Vater, der im Gefangenentransport zur Suppenschüssel in Sibirien gefahren war und sie hungernd im Krieg zurückgelassen hatte. Mit fünf wusste ich alles über das Leben, die restlichen vierzig Jahren brauchte ich, um es zu verstehen.«
    Er hob eine Handvoll Steine auf und schleuderte sie nacheinander ins Wasser. Die junge Frau sah, wie seine Hände hart wurden.
    »Ich frage mich oft, wie ich es überhaupt geschafft habe, am Leben zu bleiben. Als ich jung war, hatte ich Angst wie verrückt. Dann beschloss ich, die Angst zu überwinden. Ich ging in den Judo-Verein, und fünf Jahre später hatte ich den schwarzen Gürtel. Danach hatte ich keine Angst mehr. Ich bin bereit, jederzeit zu sterben. Wenn ich heim nach Moskau fahre und höre, wie meine Mutter im Nebenzimmer atmet, kriege ich noch immer eine Gänsehaut. Ich verachte sie; manchmal habe ich auch Mitleid mit ihr. Ein Mensch, der immer recht hat, ist ein blinder, tauber Mörder. Aber das kannst du nicht verstehen, brauchst du auch nicht. Es reicht, wenn du da bist.«
    Er verstummte, und erstickte Stille umfing die beiden. Der Mann zog sein Messer aus dem Stiefel, ließ es aufschnappen und prüfte mit dem Finger die glänzende Klinge. In der Tiefe seiner halb geschlossenen Augen lag Enttäuschung.
    »Keine Verwandtschaft und keine Beziehungen. Der Faden riss schon vor meiner Geburt, und warum jetzt noch die Geister der Vergangenheit wecken? Mit dem Karren der Vergangenheit

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