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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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schlief in ihren Kleidern ein, ruhig, ohne etwas zu denken.

Ungeachtet der dicken Sonne war der Halbmond über der Jurtensiedlung hängen geblieben. Kleine weiße Wolken flitzten übers Firmament. Lastwagenkolonnen rollten den Baustellen entgegen und brachten das Fenster im Hotelzimmer zum Zittern, Pferde wieherten und schlugen mit ihren dichten Schweifen nach den stechenden Sonnenstrahlen. Alte Männer in Schaffelljacken pafften vor dem Kaufhaus in der Hauptstraße ihre Morgenzigaretten, die Frauen eilten mit Milchkannen in den Händen vorbei.
    Als die junge Frau ins Foyer kam, überreichte ihr der Mann einen Strauß Alpenveilchen und gab ihr drei Wangenküsse.
    »Ist es der da, der dich ärgert?«
    Verächtlich deutete er auf den Reiseführer. Nachdem die junge Frau genickt hatte, beorderte er den Reiseführer mit einem Handzeichen zur Seite. Kurz darauf entfernte sich der Reiseführer, ohne sich noch einmal umzudrehen, gereizt und gedemütigt, aber gut bezahlt.
    »Diese Wanze wird uns keinen Ärger mehr machen«, lachte der Mann. »Grässliche Klamotten, spielt sich aber wer weiß wie auf.«
    Draußen warteten neben einem surrenden Telegrafenmast ein glänzender alter Wolga und dessen dünner, bocksbärtiger Fahrer, der eine kurze Bernsteinspitze mit erloschener Zigarette im Mund stecken hatte.
    »Das hier ist Gafur, Krieger der Goldenen Horde und ein Freund von mir von der Baustelle. Ein richtiger Tatar und kein schwäbischer Protestant. Weißt du, was die Tataren für Kerle sind? Die haben Hitler einen mit Gold verzierten Sattel geschenkt, und dafür hat Stalin das ganze Vielmillionenvolk töten lassen. Nur Gafur ist am Leben geblieben.«
    Gafur lachte. Der Mann setzte sich neben ihn nach vorne, die junge Frau auf die Rückbank. Im Auto stank es nach Haarschuppen und Schweiß.
    »Perfekte Armaturen, Hängepedale, Lenkradschaltung und integriertes Radio. Und was das Beste ist: viele kleine Mängel für wenig Geld.«
    Gafur startete den Wagen mit einer scharfen, schnellen Handbewegung und trat das Gaspedal durch, sodass die Hinterräder lange im schmierigen Schneematsch durchdrehten. Er schlug den Weg zur Ausfallstraße ein und holte alles aus dem Auto heraus. Dicker, mit Schnee durchsetzter Sandstaub bedeckte die Landstraße. Gafur erzählte, er sei schon fünfzehn Jahre mit seiner Tatjana zusammen und habe sie erfolgreich von Alma-Ata in die Mongolei gelenkt.
    Mal hüpfte der Wolga auf die rechte Straßenseite, mal auf die linke. Die entgegenkommenden Lastwagen sausten mal auf der einen, mal auf der anderen Seite vorbei. Zwischendurch trat Gafur plötzlich auf die Bremse, worauf der Beifahrer mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe schlug, dann gab er wieder Gas, und die junge Frau wurde in die Rückenlehne gedrückt. Der Mann deutete auf die im hellen Sonnenschein liegenden Goldenen Berge am Horizont. Sie leuchteten abwechselnd rot und weiß.
    »Jetzt düsen wir ins Altai-Gebirge. Dort werden Natur und Landluft besser. Ich verkaufe dich an einen Pferdehirten, der dir das Gehirn aus dem Schädel bumst, und du wirst die beste Ziegenmelkerin der Mongolei.«
    Hier und da schoben sich Lastwagen durch die Gegend, aus deren Innereien dampfendes Wasser schoss. Überall sah man bunte Schafe und Ziegen, und in der Ferne schaukelte eine voll beladene Kamelkarawane. Auf dem Rücken eines Kamels war eine riesige Antenne befestigt. Der Wolga schlingerte und hustete bei rasender Geschwindigkeit, das Autoradio krächzte. Die schwarz gesprenkelte Sonne strahlte heiß durch die Heckscheibe, die junge Frau legte die Wange ans kühle Glas des Seitenfensters.
    Ein harter Schlag ließ sie zusammenfahren. Mitten in einem Fluss mit klarem Wasser war das Auto stehen geblieben. Gafur fluchte, und der Mann lachte.
    Die Männer zogen Schuhe, Strümpfe und Hosen aus und baten die junge Frau, sich ans Steuer zu setzen. Immerhin pfiff, rappelte und tuckerte der Motor noch. Die Männer gingen nach hinten und schoben. Die junge Frau legte den ersten Gang ein, ließ sanft die Kupplung kommen und trat aufs Gas. Schlotternd wateten die Männer im eiskalten Wasser ans Ufer. Zum Glück reichte es nur bis zu den Knien. Die junge Frau jagte den Wagen die Uferböschung hinauf und stieg aus.
    »Ich werde dich schon noch zähmen, du Hure«, zischte Gafur, sprang in den Wolga und packte wütend das Lenkrad.
    Der Mann sah Gafur an und runzelte die Stirn. Gafur rammte direkt den zweiten Gang rein, trat aggressiv aufs Gas und riss mehr als nötig am

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