Abteil Nr. 6
landet man nur auf dem Misthaufen.«
Er hielt ihr das Messer hin.
»Das hier ist das Kreuz meines Vaters, ein sibirisches Messer. Ich weiß nicht, was er damit alles angestellt hat, aber ich habe mit diesem Messer Wimma abgestochen. Ein Stück Dreck hat das andere tot gemacht.«
Er berührte mit der Schneide seine Wange.
»Jetzt gehört es dir.«
Sie nahm das Messer entgegen. Es war schwer. Der schwarze Griff bestand aus Knochen, in den ein silbernes orthodoxes Kreuz eingelassen war. Sie spürte die Kraft des Messers, und sie spürte, wie seine Reise bis hierher, mit allem Licht und allen Schatten, sie durchströmte. Alle Freude, Trauer, Hoffnung, Verzweiflung, der ganze Hass und vielleicht auch Liebe. Dann schaute sie dem Mann in die Augen und sagte wie Hiob:
»Was mich erschreckte, das kam über mich, wovor mir bangte, das traf mich auch, Wadim Nikolajewitsch.«
Der Mann berührte sanft ihre Hand, dann nahm er eine Packung Rakete aus der Tasche und steckte sich eine Papyrossi an. Die junge Frau ließ das Messer aufschnappen und blickte auf die Hände des Mannes und dann auf das schwere, scharfe Messer. Wie viele Menschen waren damit umgebracht worden?
Sie zog einen Fünfzig-Rubel-Schein aus ihrer Jeanstasche und reichte ihn dem Mann. Er nahm den Schein mit einem leichten Lächeln entgegen und steckte ihn ein. Der kräftige Schnee knirschte unter seinen stumpfen Schuhen. Große, leichte Schneeflockenfetzen schwebten vom Himmel herab.
Als der Mann gegangen war, kamen die Kinder. Sie bestaunten alles, was die junge Frau hatte, und bettelten frech darum: Ring, Halskette, Knöpfe, Gürtel, Haarspange, Halstuch. Sie gab dem ältesten Jungen in der Schar ihre Halskette. Er schaute sie kurz an, schleuderte sie zu Boden und bettelte um die Schuhe. Im Gefolge der Kinder kamen die Eichhörnchen. Sie sprangen der jungen Frau auf die Schulter und auf den Kopf, eines versuchte, nach ihrem Gesicht zu schnappen. Die Kinder hetzten die Eichhörnchen von allen Seiten auf sie. Ein kleiner Junge hatte einen Stock in der Hand und stocherte damit nach ihr. Als sie laut aufschrie, rannte der Junge davon, kam aber bald zurück und stocherte weiter. Sie nahm ihm den Stock aus der Hand und zerbrach ihn, worauf der Junge anfing zu brüllen, die Eichhörnchen verschwanden und die übrigen Kinder lachten.
Die junge Frau ging am Bach entlang. Die Kinder folgten ihr auf Schritt und Tritt, eines warf mit Steinchen nach ihr. Aus der Ferne beobachteten die Frauen, was die Kinder trieben, und lachten stolz. Die junge Frau schob die Hand in die Tasche und befühlte das Messer. Sie dachte weder an die mongolischen Kinder noch an die Frauen.
Der schläfrige Himmel wurde schnell dunkel, und ein scharfer Wind brachte körnigen Schnee von den Bergen. Dann legte sich der Wind, und über alles senkte sich frühlingshafte Abendstille.
Leichtes Dämmerlicht lag über dem Jurtendorf, als der Mongole und Gafur mit den Schafen aus den Bergen kamen. Der Mongole schlachtete ein großes Schaf, ließ das Blut aus der Halsschlagader in einen Plastikeimer laufen und reichte den Eimer einer älteren Frau, die damit in der Jurte verschwand.
Nun enthäutete der Mongole das Schaf. Danach schnitt er mit Gafur das Fleisch in Stücke. Anschließend legte er die Stücke in die blutige Haut und schleppte das Bündel mit Gafurs Hilfe zum Ofen.
Der Mongole öffnete den Deckel des Ofens, der voller glühender Steine war. Mit einer Zange nahm er einen Stein nach dem anderen heraus und schob ihn in die Haut. Zum Schluss hängten er und Gafur die Haut über den Ofen, sodass die Wolle von der Haut gesengt wurde.
Eine Stunde später öffneten sie die Haut und legten die garen Fleischstücke in ein Metallgefäß. Kalter Nordwestwind kam auf.
Die junge Frau ging in die Jurte, um sich zu wärmen. Drinnen saß der Mann entspannt am niedrigen Tisch und rührte mit dem Löffel in seinem Teeglas.
»Bald ist Mai, mein Mädchen«, sagte der Mann. »Den April mag ich, aber den sibirischen Mai hasse ich. Dann zieht es aus der Dreckrichtung, und der Wind bringt grauenhaftes Schneegestöber mit. Es kommt einem schmutzig und widerlich vor.«
Indessen schmolz die müßige Sonne am Himmel, und der Mond ging auf. Sie saßen in der Jurte auf dem Boden, jeder an seinem Platz. Der Mann überreichte dem Herrn der Jurte als Geschenk einen Handbohrer, Marmelade, ein Glas Salzgurken und einen Stapel Zeitungen, den Frauen schenkte er polnisches Parfüm und Bernsteinperlen. Als Gegengabe
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