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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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erhielt er fünfzehn frische Murmeltierfelle. In der Wärme der Jurte aßen sie das gute Schaffleisch und hoben die Gläser. Gafur füllte die Wasserpfeife mit Marihuana aus der Gegend von Astrachan und mit öliger, in Kasachstan aus Hanf hergestellter, starker Neftjanka. Die Pfeife wurde von den Männern in der Jurte geraucht, den Frauen bot man nichts davon an.
    Es war still. Die jüngere Frau goss Kumys in Becher.
    Gegen Abend erhoben sich der Mann und Gafur und machten sich zum Aufbruch bereit. Sie verabschiedeten sich lange von dem Alten und den Frauen, gaben ihnen noch ein paar Geschenke und verließen schließlich die Jurte. Die junge Frau folgte ihnen. Draußen ließ der scharfe Wind feinen eisigen Schnee durch die Luft sausen, ein türkiser Hof umgab den grauen Mond.
    Die Reisenden stiegen in den Wagen, die Männer vorne, die junge Frau hinten. Keuchend und knallend sprang das Auto an. Die Kinderschar rannte ihm hinterher und bewarf es mit Steinen.
    Das wirbelnde Schneegestöber und die früh einsetzende Dunkelheit, die über dem ewigen Gebirge schnell alt und Nacht wurde, führten die Gedanken der jungen Frau nach Moskau. Sie dachte an die Moskauer Morgen, wenn dichter Nebel beide Ufer der Moskwa verhüllte, daran, wie frisches, eiskaltes Wasser aus dem Nebel tropfte, sie dachte an die vollen Metrozüge, an die Leute vom Land, die mit ihren riesigen Kolli zwischen den Türen stecken blieben, sich in den Rolltreppen verfingen, drängelten, stießen, in alle Richtungen hetzten, an die Menschenmassen, die von einem Metrotunnel zum anderen trieben. Für eine Weile vergaß sie alles andere. Der Wolga raste mit unheimlicher Geschwindigkeit den Berg hinunter, wobei der Sandsturm aus dem Norden träge gegen die Windschutzscheibe peitschte.
    Nach Mitternacht kamen sie in die Stadt zurück.

Sie standen noch kurz vor dem Hotel zusammen. Der Mann und Gafur rauchten Abschiedszigaretten, der Mann schaute die junge Frau dabei scharf mit seinen hellen Augen an, auf orientalische Art von unten herauf, mit ernster Miene, in der aber bubenhafter Eifer aufblitzte.
    »Wir gehen jetzt ein bisschen Bocksprünge machen, die Gerüche von Leben und Tod schnuppern«, sagte er und winkte der jungen Frau nachlässig beim Weggehen zu.
    Bis zum Morgen saß sie in ihrem dunklen Zimmer. Sie dachte an Mitka, an ihre Rückkehr von der Datscha, die Irinas Kollegin gehörte. Sie hatten im vollgestopften, nach Mangel und Gleichgültigkeit stinkenden elektrischen Zug gesessen. Sie hatte sich an Mitkas Schulter gelehnt und die Bewegung gespürt, die Bewegung in allem, was um sie herum war, und die Bewegung in sich. Darüber war sie eingeschlafen, und Mitka weckte sie am Bahnhof in Moskau auf und bat sie, eine Zahl mit achtzehn Ziffern zu nennen. Sie nannte die Zahl, und einen Moment später hatte Mitka die fünfte Wurzel daraus gezogen. Er war begeistert von Logarithmen; mitunter wurden die Zahlen in seinem Kopf so groß, dass er hohes Fieber bekam.
    Erst als sich im Osten blaues Licht abzeichnete, rannen ihr die ersten Tränen über die Wangen.
    Der Reiseführer wartete vor dem Frühstücksraum auf sie. Sie aßen und schwiegen. Der Reiseführer schaute sie gleichgültig an und schlug ihr vor, den letzten Tag in Ulan-Bator alleine zu verbringen, da er einen deutschen Touristen bekomme.
    Den ganzen Tag schneite es träge. Ein leichter Wind fegte den Schnee in die Senken, wo das trübe Wasser gefroren war, alles Unschöne und Graue war verschwunden. Die junge Frau betrat ein Lokal. Mitten im Gestank von Alltag und gebratenem Schafsfleisch heulte ein Primus-Kocher, Kinder rangen im Schmutz auf dem Fußboden, ein Schuljunge versuchte, auf der Fensterbank mit einer Spiegelscherbe die Sonne einzufangen. Die junge Frau trank eine Tasse Tee mit Ziegenmilch.
    Am Abend kehrte sie ins Hotel zurück, packte ihre wenigen Sachen, legte das Flugticket auf den Nachttisch und konzentrierte sich aufs Atmen. Einen Moment lang musste die angenehme Dunkelheit den Weg zu ihr suchen, dann war sie auch schon da. Ein matter orangefarbener Stern hing an der Mondsichel. Das Duo beleuchtete die schlafende Stadt so gut wie gar nicht, alle anderen Sterne waren in den vereisten roten Sand der Wüste Gobi gefallen, nur die Venus funkelte hell und erregt am Himmel, während letzte Schneeflocken zur Erde schwebten. Die junge Frau war bereit, ihr Leben anzunehmen, sein Glück und sein Unglück.
    Sie war bereit, nach Moskau zurückzukehren. Nach Moskau!
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