Abzocker
lautete: RAUSCHGIFTVERBINDUNG IM MORDFALL VON CHESHIRE POINT. Wie immer bei der New York Times stellte sich dies als die Untertreibung des Jahres heraus. Der Artikel, mit wie gesagt sechzig Zeilen auf der Titelseite und neunzig weiteren auf Seite vierunddreißig, fasste alles ganz wunderbar zusammen. Besser hätte ich es mir nicht wünschen können.
Das Morddezernat Manhattan-West hatte das Heroin gefunden, nach einer, wie es die Times freundlicherweise formulierte, »sorgfältigen Überprüfung von Brassards Büro in 117 Chambers Street«.
Warum es einer sorgfältigen Überprüfung bedurft hatte, wollte mir nicht einleuchten, hatte doch ein Briefumschlag mit Heroin unter dem Tintenabroller hervorgelugt und drei weitere in der obersten Schublade des Schreibtisches gelegen. Aber ich wollte mich ja schließlich nicht mit der Times anlegen.
Das Heroin besaß laut Times einen Wiederverkaufswert von mehr als einer Million Dollar. Was in aller Welt das bedeuten sollte, durfte sich jeder selbst zusammenreimen. Bis das Zeug beim Endverbraucher landete, durchlief es noch wenigstens fünfzehn Mittelsmänner und wurde ebenso oft mit irgendwelchen minderwertigen Substanzen gestreckt. Der Wiederverkaufswert hatte praktisch keine Bedeutung, und es war unmöglich zu berechnen, wie hoch der Einkaufspreis des Heroins gewesen sein mochte. Außerdem war der finanzielle Wert letztendlich unwichtig, sobald man ernsthaft darüber nachdachte.
An diesem Punkt hatten die Bullen natürlich zwei und zwei zusammengezählt. Und sie waren selbstverständlich auf vier gekommen. Die Telefonnummern, so die Times, gehörten zu Etablissements, in denen bekanntermaßen mit Drogen gehandelt wurde. Die Frage, warum die Läden noch nicht geschlossen waren, wenn ihre Rolle im Drogenhandel bekannt war, wurde weder gestellt noch beantwortet. Doch anhand des Rauschgiftes, den Telefonnummern und einer sorgfältigen Überprüfung von Brassards Büchern kam die Mordkommission zu dem Ergebnis, dass Lester Keith Brassard nicht nur Feuerzeuge aus Japan importiert hatte.
Diese Tatsache, verbunden mit der Mordmethode, musste zur letzten Schlussfolgerung führen: Brassard war von der Mafia getötet worden. Entweder hatte er sie hereingelegt oder sie wollten sich in sein Geschäft drängen. Der Reporter der Times, der offensichtlich ein paar Filme zu viel über die Famiglia gesehen hatte, meinte, dies könne ein Nachspiel des Appalachen-Treffens sein, auf dem das Syndikat den Beschluss gefasst hatte, aus dem Drogengeschäft auszusteigen. Nach seiner Interpretation war der arme Lester Keith ein hochrangiger Mafiosi gewesen, der sich geweigert hatte, den Wechsel der Geschäftspolitik mitzumachen und den Preis für seine »Auflehnung gegen das Syndikat« hatte zahlen müssen. Es war eine ziemlich faszinierende Theorie und ein wunderbares Beispiel für interpretativen Journalismus in Aktion. Hoffentlich bekam der Junge dafür den Pulitzerpreis.
Drei oder vier Absätze beschäftigten sich mit Mona, und in ihnen stand genau das, was ich mir wünschte. Die trauernde Witwe war von der neuen Entwicklung des Falles völlig überrascht. Alles, was darauf hindeutete, dass ihr Mann kein ehrbarer Bürger gewesen war, schockierte sie zutiefst. Nein, sie hatte nicht genau gewusst, womit er sein Vermögen verdiente. Er war nicht die Art Mann, der die Arbeit aus dem Büro mit nach Hause brachte. Er hatte ein gutes Einkommen, und mehr wusste sie nicht. Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass er sich auf etwas – auf etwas wirklich Kriminelles eingelassen haben sollte. Das passte doch überhaupt nicht zu Keith!
Sie hätte Schauspielerin werden sollen.
Mir gefiel der Artikel. Von meinem Standpunkt aus betrachtet war das, was nicht darin stand, ebenso wichtig wie das, was berichtet wurde. Cheshire Point als Tatort war fast völlig aus dem Fall verschwunden. Ein paar Zeugen waren aufgetaucht und hatten die üblichen, sich widersprechenden Aussagen gemacht. Einer war sich absolut sicher, dass die drei Killer vor den tödlichen Schüssen ausgerufen hätten: Das ist für Al, du Schwein! Die übrigen Aussagen kamen der Wirklichkeit etwas näher, aber auch nicht sehr. Keiner schien sich mehr besonders für die Schüsse zu interessieren. Niemand trauerte um den als Schurken demaskierten Brassard. Die Polizei verfolgte die Verbindungen zum Drogenhandel und interessierte sich nicht mehr sonderlich für den Mord als solchen. Man ließ Mona in Frieden, höchstens ein paar Frauenblätter
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