Acacia 01 - Macht und Verrat
»Thaddeus Clegg, du Hund, ich habe dir etwas zu sagen.«
Wie betäubt starrte Thaddeus die Gestalt an. Wie war das möglich? Er versuchte, mit steif geschürzten Lippen seinem Missfallen über das Eindringen des Mannes Ausdruck zu verleihen, was für eine Hexerei dabei auch immer im Spiel sein mochte. Es war eine unwillkürliche Reaktion, doch er hatte Mühe, diesen Gesichtsausdruck beizubehalten, denn das graue Leuchten in den Augen des Mannes fesselte ihn. Warum rief er nicht nach den Wachen? Er wusste, dass es ganz leicht wäre, doch irgendetwas hinderte ihn daran, hielt ihn im Bann dieser Augen. Erst musste er wissen, wer dieses Geschöpf war. Das war der Schlüssel, dachte er. Er spürte einen Namen auf seiner Zunge, bereits bekannt. Er musste nur ausgesprochen werden, damit er wirklich würde.
»Hanish?«, fragte er. Der Mann lächelte, anscheinend erfreut darüber, beim Namen genannt worden zu sein. Dieser Gesichtsausdruck genügte als Bestätigung, dass er richtig geraten hatte. »Wie ist das möglich?«
»Durch Traumwanderung«, antwortete die Gestalt. »Man schläft und schläft nicht; ich bin im Geiste wach und sehr fern von meinem schlafenden Körper. Selbst jetzt fühle ich, wie er an mir zerrt, er versucht, mich in das zurückzuziehen, was vertraut ist. Unser Geist verlässt den Körper nur ungern, Thaddeus. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, dass die meinen nur danach streben, aus ihrem verfluchten Untod, aus dieser Bürde des Fleisches zu entkommen, doch so ist es. Es verblüfft mich ebenso wie Euch, dass wir miteinander sprechen. Wir waren uns noch nie nahe genug, und ich habe nicht gewusst, dass Ihr diese Gabe habt. Nicht jeder besitzt sie. Zwischen meinen Brüdern und mir hat seit jeher Schweigen geherrscht. Es ist unmöglich, die Ordnung der Dinge zu begreifen...«
Hanish verblasste einen Moment in der Dunkelheit, dann flackerte er erneut auf, leuchtete heller als zuvor. »Ich bin froh, dass Ihr mich so schnell erkannt habt, aber ich bin nicht gekommen, um zu plaudern.«
Etwas in Hanishs Tonfall erschien Thaddeus so merkwürdig, dass er nicht nur auf die Worte achtete, sondern auch darauf, wie er sie vorbrachte. Es war schwer, den anderen trotz der Verzerrungen zu durchschauen, die die Entfernung mit sich brachte, doch sein Gesprächspartner war ein Mensch, und Thaddeus hatte Menschen schon immer einzuschätzen vermocht.
»Sind die Kinder in Sicherheit?«, fragte Hanish.
»Die Kinder? Die Kinder braucht Ihr nicht zu fürchten. Sie sind keine echte Bedrohung für...«
»Ihr habt ihnen doch nichts zuleide getan?«, fragte Hanish. In seiner Stimme lag ein Hauch von Besorgnis.
Als der Häuptling einen Augenblick lang trüber wurde und zu flackern begann, hatte Thaddeus etwas Zeit zum Nachdenken. In Hanishs Augen sah er, dass der Mann etwas verbarg. Er log nicht gerade, doch hinter seinen Worten lag eine verzweifelte Bedeutung, die Thaddeus nicht erfassen sollte.
»Natürlich nicht«, antwortete er, als Hanish wieder hell vor ihm schwebte. »Ich habe sie hierbehalten, in meiner Nähe, in jeder Hinsicht …«
»Es ist wichtig, dass sie am Leben bleiben. Versteht Ihr? Ihr Überleben bedeutet mir viel. Ich bin hier, um Euch noch einmal zu sagen, dass Ihr belohnt werdet, wenn Ihr sie mir übergebt. Darüber unterhalten wir uns in ruhigeren Zeiten, und ich werde mich Euch gegenüber erkenntlich zeigen. Das könnt Ihr mir glauben. Ich bin kein falschzüngiger Akaran. Ich sage die Wahrheit. Das hat mein Volk schon immer getan.«
Schlagartig wurde Thaddeus etwas klar. Er begriff, was Hanish vor ihm verbarg. Da war es, hinter der Behauptung, sein Volk habe stets die Wahrheit gesagt. Dies war keine leere Prahlerei, der Mann verkündete offen seinen Stolz auf sein Volk. Die Mein hatten seit jeher behauptet, sie seien in den Norden verbannt worden, weil sie in aller Wahrhaftigkeit gegen die Verbrechen der Akaran aufbegehrt hätten. Und sie glaubten daran, nicht nur, dass sie verbannt worden, sondern auch, dass sie mit einem Fluch belegt worden waren. Die Tunishni... Das war es, was Thaddeus bis jetzt nicht bedacht hatte. Für die Akaran waren sie nur eine Legende, aber vielleicht hatten sie für die Mein ja eine größere Bedeutung.
Bisher hatte er nur an den uralten Hass gedacht, den die Mein gegen Acacia hegten, daran, wie sehr es sie nach diesem milden Land gelüstete, wie reich sie werden würden, wenn sie es beherrschten, und wie wohltuend es wäre, ihre alten Feinde
Weitere Kostenlose Bücher